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Nenn mich November von Kathrin Gerolf - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Nenn mich November

von Kathrin Gerolf


Der Anfang: Wenn das Dorf schläft, schleichen all seine Hunde über die Höfe und durch die Gärten. Ihre Schnauzen spüren dicht am Boden nach Lebendigem. Das Lebendige ist draußen. Drinnen schläft, was noch lebt.

Ein gelungener Anfang zu einem Roman, nennen wir ihn Heimatroman, der bei mir unter den 10 besten Büchern dieses Jahres landet. Die Geschichte ist wundervoll geschrieben, sprachlich perfekt. Marthe, Anfang fünfzig, und ihr Mann David haben sich verkalkuliert. Ihre Start-up-Firma in Berlin ist pleite. Kompostierbares Geschirr, voll im Trend … Eins hatten sie nicht bedacht, den Firmen geht es nicht um Ökologie, sondern um Aufmerksamkeit. Sich einmalig mit diesem Produkt zu brüsten, reicht nicht für eine Schlagzeile in der Zeitung – der Verkauf bleibt aus. Marthe hat früher im Jobcenter gearbeitet, sie weiß, was sie und David nun erwartet. Und der Mann von der Bank, der soll sich hinten anstellen – die beiden beantragen Privatinsolvenz. Ihnen steht das Wasser bis zum Hals, der Gerichtsvollzieher sackt alles ein, was man verscherbeln kann. Die Berliner Wohnung ist nun zu teuer. Wie gut, dass David kürzlich irgendwo in der tiefsten ostdeutschen Maiswüste ein Haus von seiner Tante geerbt hat. Mit dem Wenigen, was ihnen verblieben ist, ziehen sie dort ein. Das Haus ist bewohnbar und wenn man Hand anlegt, kann man etwas draus machen, Stück für Stück.

Eine Seejungfrau mit dem schrecklichen Namen Marthe, den sie ihrer Mutter nie verzeihen konnte. Sie wollte November. Nenn mich November. Heißen. Das ist der Monat, der am besten zu ihr passt. Nenn mich November, das ist ein schöner Name.

Auf dem Dorf leben, in der frischen Luft, Biologisches frisch vom Acker, Dorfgemeinschaft … Nein, das Dorf nimmt die Neuen nicht auf, kein Duft von Landliebe. Auf der Straße ist niemand zu sehen, Fensterläden bleiben geschlossen. Der einzige Laden vor Ort ist nur zeitweise geöffnet, und es gibt dort nicht viel einzukaufen. Alkohol. Man nennt ihn Konsum, weil der schon immer so hieß und weil es schon damals nichts gab. Dort treffen sich die Frauen, die im Dorf etwas zu sagen haben, stoßen an mit Sekt. Marthe wird ignoriert. Die Vopos nennt man auch immer noch Vopos, weil sie lediglich die Uniform gewechselt haben. Mathe bekommt lediglich Kontakt zu dem Hundemann, der ihr für ein paar Euro bei Handwerksarbeiten hilft und zu dem Jugendlichen Robin, der wegwill aus diesem Dorf, sobald er den Schulabschluss in der Tasche hat.

Er glaubt denen kein Wort. Sie sind die abgehängteste Region deutschlandweit. Wie im Urwald oder mitten in der Wüste. Deshalb gibt es hier auch so viele Zombies. Die lassen sich alles vom Fernseher erzählen. 

Nun blättert sich das Dorfleben auf, wobei die Autorin geschickt zwischen den Sichtweisen der Protagonisten hin und her wechselt, an manchen Stellen die gleiche Geschichte aus einer anderen Perspektive wiedergibt. Fast alle Dorfbewohner sind arbeitslos. Es gibt nichts im Dorf, nicht mal Internet. Empfang hat man nur, wenn man auf einen Hügel steigt. Nach der Wende waren alle arbeitslos. Erst kamen Firmen, predigten blühende Landschaften, stellten ein, die Leute nahmen Kredite auf. Schnell waren sie wieder arbeitslos. »Die Zuckerfabrik hat zugemacht, die Zulieferbude für VW ist kurze Zeit später pleitegegangen, die Papierfabrik ebenso.« Die Leute verkauften ihr Land an Krüger und Schulz, die dafür Hungerpreise bezahlten. Und dann kamen die Holländer: riesiger Schweinemastbetrieb und die Biogasanlage. Krüger und Schulz machten die Hand auf, sind die Großgrundbesitzer im Dorf.

Aber jetzt, wo er daran denkt, während Marthe Lindenblatt vor sich hin lächelt, muss er an die toten Männer in den Biogasanlagen denken und an die Gerüchte, die schon lange die Runde machen. Dass es auf die Frauen im Dorfladen zurückgehe, dieses sonderbare Sterben, das schon fast einer Epidemie gleicht. Vielleicht sind hier lauter Kriemhilds am Werk. Kennen Sie die Nibelungen?

Männer fallen mir nichts dir nichts in die Biogasanlage, eine Frau verwindet nachts, wurde nie wieder gesehen. Ein Dorf voller Geheimnisse. Wer hier wohnt, ist eigentlich schon tot. Über diesem Dorf kreist Depression und Gift und Galle, wabert eine Alkoholfahne. Hier ist niemand niemandes Freund und kein Ehepaar spürt noch einen Funken Liebe. Man steckt noch in der alten Zeit fest, ist aber irgendwie doch in der neuen angekommen. Wer hier immer noch herumhängt, hat den Anschluss verpasst. Man redet nicht miteinander, man lebt vor sich hin, tut, was gemacht werden muss. Und jeder spielt seine Spielchen.

Die ersten kommen am späten Abend. Einhundert Menschen, und mehr sollen es erst einmal nicht werden. Zwei Busse voller Kriegserinnerungen und Alpträume.

Plötzlich kommt Bewegung ins Dorf: Flüchtlinge werden einquartiert, in die Baracken, die für die Zwangsarbeiter im Krieg gebaut wurden, die dort schuften mussten, wo später die Saisonarbeiter aus Polen wohnten. Keiner will diese Asylanten haben, man weiß ja, was das für welche sind, auch wenn man noch nie einen gesehen hat. Sofort wird eine Bürgerwehr gegründet. Die Frauen wollen das nicht. Sie sehen plötzlich ihre Macht schwinden. Sie wollen auch kein Internet, denn dort könnten ihre Männer alles finden und bekommen. Manch einem kommen die Flüchtlinge recht, sie bringen Geld, Miete, Subventionen, die müssen unterrichtet werden, Securityjobs, vielleicht sind auch ein paar bereit, im Sommer schwarz zu arbeiten.

Im Internet kann man alles haben, und es bleibt geheim. Geheimer, als sich in einem Wohnwagen von einer abgenutzten und somit ungefährlichen Hausfrau mal einen runterholen zu lassen. Mit dem Internet werden die Frauen die Kontrolle über ihre Männer verlieren.

Kathrin Gerolfs Sprache ist empathisch, lässt einem oft das Gruseln über die Haut gehen. Sie schafft es, Stimmungen zu erzeugen, ohne sie zu benennen, Gefühle zu öffnen, in die Figuren tief einzusteigen. Im Subtext setzt sie ganz böse Marker, die das düstere Bild des Dorfs stimmig machen. Sie zeichnet ihre Protagonisten klar, bildet alle Facetten heraus. Der Sprachstil passt sich in die depressive Dorfgemeinschaft ein, ohne bedrückend zu wirken. Anfangs wirft sie dem Leser die harten Männer vor die Füße, die das Dorf beherrschen, die »Hexengruppe«, die andere mächtige Sektion, um dann das ganze äußere Bild nach innen aufzulösen, lässt uns hinter die geschlossenen Fensterläden schauen. Die Geschichte an sich ist recht gewöhnlich. Aber wie sie erzählt wird, sprachlich, atmosphärisch, das ist große Literatur!

Sanft, sehr sanft weht der Wind durch die Scheune. Er pustet sich durch brüchiges Sackleinen, malt müde ein kleines Muster auf den Lehmboden, wedelt Stroh von der großen Egge, bringt Frieda zum Schaukeln.

Kathrin Gerlof, geboren 1962 in Köthen/Anhalt, lebt als Journalistin und Autorin in Berlin. 2008 debütierte sie mit »Teuermanns Schweigen«. Ihr zweiter Roman »Alle Zeit« wurde euphorisch besprochen. Nach »Lokale Erschütterung« erschien »Das ist eine Geschichte« (2014), ein weiterer Roman über »Brandstellen und wunde Punkte der deutschen Historie« (Berliner Zeitung).

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