Rezension
von Sabine Ibing
Mutters Puppenspiel
von Ulla Coulin-Riegger
Neben ihr blieb ich klein.
Die Erzählerin, Lisette, ist eine erfolgreiche Ärztin mit eigener Praxis. Sie ist nicht dumm, in der Tat nicht, denn sie erkennt genau, in welchen Spinnennetzen sie sich verfangen hat. Wie eine Fliege klebt sie darin fest, kann sich nicht befreien. Dieses Netz hat ihre Mutter gesponnen, von Anfang an, sie dazu erzogen, sich unterzuordnen, klein zu bleiben. In jeder Beziehung zu anderen Menschen nimmt sie ihren vorbestimmten Platz ein, fühlt sich unwohl, durchschaut das Spiel – ist aber nicht in der Lage, sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie ist ein typischer Represser. Kinder narzisstischer Mütter kennen meist das Gefühl von Schutz, Wärme und Geborgenheit nicht, finden oft nicht die Möglichkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, können ihre Wünsche nicht definieren, und sie können weder zu sich noch zu anderen eine ausgeglichene, liebende Beziehung eingehen. Solange sich das Kind nach der Mutter richtet, schafft das Kind es, eine ausgeprägte und sehr enge Beziehung zur Mutter zu erhalten, denn das Kind ist letztendlich nur dazu da, das verherrlichte Selbstbild der Mutter zu stützen – das Kind wird emotional missbraucht. Eine Tochter kann ab der Pubertät in den Augen der Mutter zur Konkurrenz werden. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder kracht es und das Kind schafft es, sich aus den Fängen der Mutter zu lösen (oft harter Bruch) oder das Kind passt sich an, gibt weiterhin Showtime für die Mutter – wie Lisette.
Also muss ich mich noch kleiner machen, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie mir auf allen, aber wirklich auf allen Gebieten das Wasser reichen kann.
Lisette besucht ihre Mutter jedes Wochenende, bringt Kuchen mit, jede Handlung, jedes Wort folgt nach einem Ritual. Und weil sich Lisette stets brav verhält, die Mutter bewundert, gibt es am Ende eine Belohnung. Sie begreift dieses Spiel und sie hasst es. Aber auf eine gewisse Weise liebt sie ihre Mutter, will sie nicht verlieren.
Und da ist Emil, mit dem Lisette seit Jahren eine heimliche Beziehung führt. Emil ist seit 25 Jahren unglücklich verheiratet, wie er behauptet. Seit Jahren will er sich trennen. Lisette hofft auf Taten, stellt aber keine Forderungen, klopft nie an. Und er fragt auch nie nach ihren Wünschen. Gern würde sie mit Emil in den Urlaub fahren – doch der verbringt seine Silberhochzeit mit seiner Frau in Italien. Gern hätte Lisette Kinder, auch ihre Mutter mahnt, sich einen vernünftigen Mann zu suchen, Kinder zu bekommen – das macht man so als Frau. Emil hat Kinder. Lisette wird schwanger. Was nun? Wie wird Emil reagieren? Lisette hat eine einzige Freundin. Doch auch die ist nicht die Richtige – ein weiteres Spinnennetz, bei dem sie brav die Regeln befolgt, die sie drücken.
Emotionaler Missbrauch, emotionale Manipulation: Mutters Puppenspiel. Ulla Coulin-Riegger beschreibt hier sehr fein, in welcher Abhängigkeit die Tochter einer narzisstischen Mutter steht, die es nicht schafft, die Fäden zu durchschneiden, wie sich diese Manipulation von Kindheit an auf die Beziehungs(un)fähigkeit zu anderen Menschen auswirkt. Lisette macht im Verlauf der Geschichte ganz kleine Schritte, zarte Fäden zu durchschneiden, aber es gibt auch Rückschläge, bei denen sie gnadenlos in ihr Verhaltensmuster zurückfällt. Lisette ist niemand, der Mauern einreist. Sie kratzt zart am Putz – vielleicht wird sie es eines Tages schaffen, sich vor sich selbst zu stellen.
Ulla Coulin-Riegger wurde 1950 in Stuttgart geboren, studierte Psychologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Nach dem Diplom Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin arbeitet sie seit 1996 niedergelassen in eigener Praxis als Verhaltenstherapeutin und systemische Familientherapeutin bei Esslingen.
Mutters Puppenspiel
Roman
Hardcover mit Lesebändchen, 174 Seiten
Klöpfer, Narr Verlag 2020
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