Direkt zum Hauptbereich

Monster wie wir von Ulrike Almut Sandig - Rezension

Rezension

Sabine Ibing


Monster wie wir 


von Ulrike Almut Sandig


Weißt du eigentlich, was passiert, wenn tief unter uns was rutscht? Ich wusste es nicht, und Fly sagte: Dann gibt’s einen Wirbel. Einen kleinen, aber heftigen Wirbel. Der zieht dich in die Tiefe, bevor du überhaupt schreien kannst.

Die Geschichte beginnt als Rückblick in den letzten Jahren vor der Wende im Pfarrerhaus in der ostdeutschen Pampa, Braunkohleabbau, sächsische Dorfidylle: Missbrauch und Misshandlung. Die Freundschaft zweier zerstörter Kinderseelen, die später als Erwachsene versuchen einen Ausweg aus dem Trauma zu finden.

Er schlug die Decke zurück, zog mir die Pyjamahose herunter und schlug mir auf den Hintern. … Als schlüge er auf einen defekten Automaten, oder als wäre er selbst ein Automat, der nur einen Arbeitsschritt, für den er konstruiert ist, durchführt.

 

Opa, der sie wie ein Vampir aussaugt

Ruth spielt Geige, allerdings am liebsten allein auf dem Dachboden, völlig versessen, denn hier kommt Opa nicht herauf. Die Tochter des Pfarrers hat Angst vor Vampiren. Bei ihr zu Hause gibt es oft Kloppe. Das ist der Unterschied zu Schlägen, Kloppe bedeutet: richtig was drauf – etwas, was man tagelang spüren und sehen kann. Und dann ist da Opa, der sie wie ein Vampir aussaugt. Sieht denn keiner, was er mit ihr macht? Papa und Mama schreien sich oft an und am Ende ohrfeigen sie sich gegenseitig, eine Latsche nach der anderen. Die Muter versteckt ihre Traurigkeit «unter einem ständigen Redefluss und den komischsten Grimassen des Dorfs ... Aber welche Traurigkeit eigentlich?» Ruth und ihr Bruder Fly durchleben ein Martyrium. Normalität. Aus allen Nachbarhäusern tönt Gebrüll und Gekloppe.

Danach war er wieder mein Großvater, der im Sessel saß und Nachrichten hörte. Seine Wangen leicht gerötet, als hätte er einen Spaziergang im Garten gemacht, die Augen geschlossen. Aber ich war immer noch eine Puppe und stakste mit steifen Beinen aus der Stube. Die Radiowellen rollten durch die Stubenluft und erschwerten das Vorankommen.

 

Können alle so blind sein?

Ruths bester Freund Viktor, Sohn einer Ukrainerin und eines NVA-Offiziers, hängt an seinem Mondglobus und er hat ein faltiges Gesicht. Er fürchtet sich vor seinem Scheißschwager. Bekommt denn niemand etwas mit? Seine große Schwester kann doch gar nicht so blind sein! Viktor lässt alles über sich ergehen, denn er hat einen Schalter in seinem Kopf gefunden – klick und schon ist er draußen – das, was geschieht, erlebt nur sein Körper. Als er älter wird, macht er jeden Tag 100 Sit-ups und rasiert sich eine Glatze, trägt Springerstiefel, ihm soll keiner querkommen.

Würde der Schwager erzählen, was Viktor alles hatte mit sich machen lassen? Wie er ihn ausgesaugt hatte, bis er sich so fühlte, als könne er nie, nie wieder die Augen öffnen und jemandem ins Gesicht sehen?) Hatte die Schwester es mitbekommen und war vielleicht böse? Würde sie petzen? Lieber Gott, betete Viktor, bitte mach, dass es keiner erfährt.

 

Wundervolle Bilder, scharf beobachtende Prosa

Ruth wird später als Geigerin reisen – verheiratet mit einem finnischen Musiker, der manchmal völlig ausrastet. Und Victor geht nach dem Abi als Au-Pair nach Frankreich. Hauptsache nur weg. Doch Gewalt findet sich überall. Auch Victor wird mit der eigenen Kindheit konfrontiert. Die Kinder wachsen in den 1980er Jahren in der DDR auf. Eine idyllische Atmosphäre, fein geschildertes Dorfleben. Dazwischen aber immer wieder Gewalt. Die Mutter von Ruth blättert durch ihr Fotoalbum, berichtet von der Prügel, die sie und ihre Geschwister erhielten, meint, gut, dass die Fotos schwarz-weiß sind, da könne man die vielen blauen Flecken nicht sehen. Gewalt über Generationen. Gewalt, die sich immer wiederholt. Die Vampire im Kopf, nicht erinnern wollen, wegdrücken – und bloß nicht darüber reden – Identitätsverlust. Ulrike Almut Sandig schreibt in wundervollen Bildern, scharf beobachtende Prosa. Auch die Geschichte von Victors Au-Pair-Tätigkeit ist herrlich. Der riesige Germane mit Pranken wie Maurerkellen hat sich als Victoria beworben. Nach der ersten Überraschung beweist sich der Junge, der kaum Französisch spricht, als fleißig und geschickt im Haushalt und sprachgewandt, wird als Teil der Familie aufgenommen. Victor, der die neuen Eindrücke in sich aufnimmt, das französische Flair. Trotz aller Gewalt strahlt der Roman Heiterkeit und Humor aus – das Böse ist tief verborgen. Ein Roman, der mir gut gefallen hat.


Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.


Ulrike Almut Sandig 
Monster wie wir
Roman, Prosa, Missbrauch, Misshandlung
240 Seiten. Gebunden. Lesebändchen.
Schöffling & Co. Verlag, 2020



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck