Rezension
von Sabine Ibing
Martha und die Ihren
von Lukas Hartmann
Lukas Hartmann hat hier ein autofiktionalen Roman geschrieben, die Geschichte von Martha (real sie einen anderen Namen, ebenso die anderen Familienmitglieder so schreibt er), die seiner Großmutter und deren Kinder. Martha ist eine beeindruckende Frau, die es aus ärmsten Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Nach dem Tod ihres Vaters wird sie als «Verdingkind» bei einer Bauernfamilie im Berner Umland untergebracht. Und das lässt sie nie los: Keine Schwäche zeigen. Arbeiten ohne Unterlass. Hart sein zu sich und anderen. Das prägt auch ihre Söhne, die es in der Nachkriegszeit unbedingt zu etwas bringen wollen. Und ihre Enkel, die dagegen rebellieren und es erstmals wagen, sich ein anderes, ein freieres Leben zu erträumen.
Fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen
Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.
Der Vater hat sich zu Tode geschuftet als Brunnenbauer – trotz harter Arbeit kam nicht viel herum. Nach seinem Tod schafft die Mutter es nicht, als Wäscherin ihre sechs Kinder allein zu ernähren. Sie bekommt zusätzlich Fürsorge und die Gemeinde macht ihr ein schlechtes Gewissen. Dann holt man die Kinder ab, verteilt sie als Verdingkinder auf diverse Höfe. Keiner weiß vom andern, wo er ist, auch die Mutter erfährt nicht, wohin man die Kinder bringt. Die achtjährige Martha hat es nicht schlecht, man behandelt sie freundlich – doch ihre Essensportion muss sie sich erkämpfen – denn sie bekommt die Schüsseln zuletzt, oft ist nichts mehr darin. Und sie schläft in einem Verschlag, schafft es schließlich, sich ein Zimmer zu erkämpfen; für ihren Fleiß erhält sie den Respekt der Familie. Sie muss im Haushalt arbeiten und auf den geistig zurückgebliebenen Sohn aufpassen, ihn an der Leine ausführen; ein Jugendlicher, der ihr schnell körperlich überlegen ist. Martha ist nun ein Teil dieser Familie, doch man zeigt ihr sehr deutlich, dass sie nicht dazugehört. Ich habe viel über Verdingkinder gelesen, Grauenhaftes, wie man sie vollkommen rechtlos ausgenutzt hat als Arbeitskräfte im Ländlichen. Oft schliefen sie in der Scheune im Stroh, aßen nicht mit der Familie, sondern erhielten nur karge Reste. Viele wurden körperlich misshandelt und oft auch sexuell missbraucht. Verdingung bezeichnete die Fremdunterbringung von Kindern zur Versorgung und Erziehung in der neueren Schweizer Geschichte von 1800 bis 1970. Dazu gehörten auch die sogenannten Schwabenkinder, Bergbauernkinder aus den Regionen Vorarlberg, Tirol, und Oberschwaben, die zur Kinderarbeit in die Schweiz vermittelt wurden, offiziell bis 1921, in Einzelfällen lief dies bis in die 70-er. Oder man nahm Schweizer Familien die Kinder weg, wenn sie sie nicht selbst ernähren konnten, fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen nannte man das. Allein diese Ausdrucksweise spricht für sich. Kinder mit traumatischen Erfahrungen, mehr als zehntausend Opfer. Zu den fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen gehörten auch noch andere Maßnahmen an verschiedenen Gruppen: einfach googeln. Ich warne vor traumatischen Leseerfahrungen! Obendrauf nahmen Schweizer Behörden bis in die siebziger Jahre unverheirateten Müttern ihre Kinder weg. Die Frauen haben bis heute kein Recht, etwas über ihre Töchter und Söhne zu erfahren. Die Kinder landeten bei Pflegefamilien, in Heimen, wurden an Bauern verdingt. Wie in vielen sozialen Punkten hat die Schweiz sich nicht mit Ruhm bekleckert.
Die Entwicklung der Schweizer Gesellschaft
Von Kolleginnen in der Fabrik hört Martha, dass die Arbeiterinnen, wie im ganzen Land, mehr Lohn verlangen, geregelte Arbeitszeiten, Ferien sogar, dass viele streiken wollen, um Verbesserungen zu erzwingen.
Martha passt sich an und sie ist fleißig, darf in der Schule eine Klasse überspringen. Als sie sie Schule verlässt, sucht sich einen Job in der Fabrik, sie will raus aus der Familie, diese Zeit abschütteln. Sie heiratet früh in eine Schusterfamilie, die die fleißige Frau warmherzig aufnimmt. Zwei Söhne und zwei Kriege, mehr als zwei Männer muss sie begraben. Jedes Mal führt sie die Unternehmen ihrer Männer ohne Rast und Ruh. Ihr Sohn Toni will hoch hinaus, den Makel abstreifen, der Sohn einer Verdingten zu sein. In diesem Roman sterben die Männer, denn sie sind schwächer als die Frauen, die sich zu Tode schuften, oft fehlt für den Arzt und für Medikamente das Geld. Die armen Menschen kämpfen ums Überleben, die Landbevölkerung lebt von der Hand in den Mund und diese Familie kämpft sich in jeder Generation ein Stück nach oben auf der Gesellschaftsleiter. Jeder rackert sich pflichtbewusst ab, doch Wärme kommt hier nicht auf. Ein distanziertes Miteinander; insbesondere Martha hält Abstand zu jedem. Sie weiß auch nicht, was aus ihrer Mutter oder ihren Geschwistern geworden ist, interessiert sich auch nicht dafür. Zu spät.. Sie hat sich einen Panzer zugelegt, um nicht weiter verletzt zu werden. Ihr Trauma legt sich auch auf die nächste Generation, wie bei den meisten Verdingkindern, die manchmal in drei Generationen verdingt wurden. Die Familiengeschichte steht exemplarisch für die Entwicklung der Schweizer Gesellschaft. Ein Familienroman, ein Gesellschaftsroman, distanziert geschrieben – so distanziert, wie Martha und die Ihren miteinander umgingen. Ein feiner Roman!
Es war merkwürdig mit den Männern, dachte Lena, wenigstens mit denen in der nähren Verwandtschaft. Sie starben alle zu früh.
Lukas Hartmann ist das Pseudonym von Hans-Rudolf Lehmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Auszeichnungen: ›Literaturpreis‹ Kanton Bern für Ein Bild von Lydia, 2018; Generationenbuchpreis ›Prix Chronos‹ für Mein Dschinn, 2016; ›Grosser Literaturpreis von Stadt und Kanton Bern‹ für sein Gesamtwerk, 2010.
Martha und die Ihren
Zeitgenössische Literatur, Gesellschaftsroman, Familienroman, Schweiz, Verdingkinder
Hardcover Leinen mit Schutzumschlag, 304 Seiten
Diogenes Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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