Rezension
von Sabine Ibing
Lot
von Bryan Washington
So läuft es meistens. Eine halbe Geschichte, und schon sind sie wieder weg. Ich weiß nicht, was mit diesen Leuten passiert oder wo zum Teufel sie enden.
Dreizehn Kurzgeschichten, die miteinander verwoben sind. Das Zentrum ist ein jugendlicher Erzähler, Nicolás, dessen Eltern ein Restaurant in Houston besitzen; sie wohnen in der Wohnung darüber. Seine afroamerikanische Mutter arbeitet hart, der erfolglose Latino-Vater zieht sich Stück für Stück aus der Familie heraus, bis er ganz verschwindet. Man nennt diese Häuser «Schrotflinten»-Wohnungen, von Termiten zerfressen, mit ständig verstopften Rohren, kaputten Fenstern. Die Geschichte des Jungen wird vernetzt mit Erzählungen über das Leben anderer Menschen der Stadt. Einwanderer am Rande der Gesellschaft, fast jeder versucht, dem Teufelskreis zu entgehen. Ein Drogendealer dealt für den Universitätsbesuch seines Sohnes – er soll es schaffen, aus dem Getto zu entkommen. Doch dann muss er feststellen, dass der Sprössling obdachlos ist und Drogen vertickt. Eine eine illegale mexikanische Einwandererfamilie in die Nachbarwohnung, denen die Mutter von Nicolás immer etwas zusteckt, damit sie überleben können – was den Vater aufregt. Der Sohn ist der einzige Freund, den Nicolás hat, seine erste sexuelle Erfahrung. Dann verliert der Vater der Nachbarn seine illegale Arbeit auf dem Bau, das Gebäude ist fertiggestellt. Sie können die Miete nicht mehr zahlen – sind von einem Tag zum nächsten verschwunden. Blowing in the Wind. Unsichere Existenzen, von Arbeitslosigkeit betroffen, immer nur einen Schritt vom Ruin entfernt; dysfunktionale Familien, Gewalt, Drogen und Kriminalität bestimmen das Leben auf der Straße. Beim Lesen spürt man, dass die Figuren nicht in der Lage sein werden, diesem geschlossenen Kreislauf ihres Lebens zu entkommen.
Regelbrüche werden mit Ausschluss bestraft
Ich habe es sogar zwei, drei Wochen im Community College versucht, direkt an der Main Street, saß in der ersten Reihe und alles, aber dann hörte ich von einem Tag auf den anderen wieder auf, und keiner sagte auch nur ein verdammtes Wort. Keiner schlug Alarm.
Die Untreue einer jamaikanischen Frau hat schlimme Folgen für ihren Liebhaber, einen «Whiteboy», der von den Nachbarn auf Schritt und Tritt beobachtet wird, als er einzieht. Der Weiße wird an den Ehemann verraten, denn Regelbrüche werden mit Ausschluss bestraft. Der Stricher Poke verliebt sich in einen Kunden, sie werden ein Paar. Dann erfährt er, dass sein Zuhälter sich mit HIV infiziert hat, fühlt sich für ihn verantwortlich.
Nicolás ist der Faden, der die Geschichten zusammenhält
Von den Geldsorgen mal abgesehen, das Viertel zu verlassen hieße, den Laden zu verlassen. Es hieße, Ma zu verlassen. Allein und bankrott.
Sieben Geschichten, die sich auf das Erwachsenwerden von Nicolás konzentrieren. Er ist homosexuell, etwas, dass er vor der Familie und der Community verschweigen muss, er ist sowieso keiner Gruppe zugehörig: «Zu dunkel für die Weißen, zu lateinamerikanisch für die Schwarzen». Rassenzugehörigkeit, ein wichtiges Thema in diesem Stadtteil. Gentrifizierung: «Die Nachbarschaft verändert sich», die Mutter wird das Haus verkaufen. Ein Wendepunkt im Leben von Nicolás, der wütend ist. Sein Vater ist verschwunden, die Schwester weggezogen, der Bruder tot, die Mutter zieht zu den Schwestern weit fort und er will nicht mit ihr gehen. Ein Neuanfang für den jungen Mann, ein harter Weg.
Momentaufnahmen
Er erzählte mir von einem Mann, der seine älteste Tochter an einen Schleuser verkauft hatte, um seine jüngste nach Browensville zu bekommen, und wie er, Monate später, noch keine von beiden wiedergesehen hatte.
Barack Obama führte «LOT» auf der Liste seiner besten Bücher des Jahres. Bryan Washington gibt den Sozialschwachen eine Stimme, beobachtet fein die Community. Es gibt auch kurze glückliche Momente im fragilen Leben dieser Menschen, an denen er uns teilhaben lässt. Der Stil des Autors ist minimalistisch, den er versucht nicht Atmosphäre für die Stadtteile zu erzeugen. Er konzentriert sich auf die Charakterstudien. Momentaufnahmen, die ein Leben verändern. Empfehlung.
Bryan Washingtons Prosatexte und Essays erschienen bisher u. a. in der New York Times, dem New York Magazine, Buzz Feed und One Story. Sein Schreiben wurde mehrfach ausgezeichnet: Für sein Debüt Lot, eine Kurzgeschichtensammlung, erhielt er den Dylan Thomas Prize, er war einer der Gewinner des National Book Award in der Kategorie «5 Under 35» und Preisträger des Ernest J. Gaines Award for Literary Excellence. Sein Romandebüt «Dinge, an die wir nicht glauben» ist in den USA ein Bestseller und wird als TV-Serie verfilmt. Er lebt in Houston, Texas.
Bryan WashingtonLot
Geschichten einer Nachbarschaft
Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence
Zeitgenössische Literatur, amerikanische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 240 Seiten
Kein und Aber Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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