Rezension
von Sabine Ibing
Long Bright River
von Liz Moore
Sprecher: Victoria SchätzleUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 31 Min.
An dem Gleis entlang der Gurney Street liegt eine Leiche. Weiblich, Alter unklar, wahrscheinlich eine Überdosis, sagt die Zentrale. Kacey, denke ich. Das ist eine Zuckung, ein Reflex, etwas Scharfes und Unterbewusstes, das in mir lebt und jedes Mal, wenn eine Tote gemeldet wird, dieselbe Botschaft rasend schnell an denselben primitiven Teil meines Gehirns schickt.
Philadelphias Stadtteil Kensington, eine von Drogenhandel, Prostitution und Kriminalität gezeichnete Gegend – das Drogeneldorado der amerikanischen Ostküste schlechthin, die Cops nennen es «Ketamin City» oder «Kackstadt USA». Hierhin setzt Liz Moore das Geschehen ihrer Geschichte. Mickey Fitzpatrick ist eine einfache Streifenpolizistin, der auffällt, dass anscheinend ein Frauenmörder durch das Viertel schleicht, der Prostituierte tötet. Frauen werden getötet oder verschwinden – wie auch ihre eigene Schwester Kacey, eine drogensüchtige Hure. Einst waren sie unzertrennlich, doch seit fünf Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander. Mickey wacht insgeheim über Kacey. Zwei Welten – zwei Frauen unverwechselbar mit ihrem Schicksal verbunden.
Eine Zwiespältigkeit durchzieht den Roman
In einem Schlafzimmer sehe ich ein altes Sofa, einen Haufen Zeitschriften und gebrauchte Kondome herumliegen. In einem anderem liegt eine Matratze auf dem Boden, und an der Wand hängt eine Schiefertafel mit einer Kinderzeichnung.Wer hier nun einen typischen Who-done-it erwartet, liegt falsch. Mickey ist eine Streifenpolizistin unteren Ranges, die nichts mit Mordermittlungen zu tun hat. Männer dominieren die Polizei, es gibt klare Abgrenzungen. Mickey Meinung ist weder gefragt noch gewünscht. Die toten Prostituierten sind in dieser Story lediglich ein Randszenarium, das man letztendlich auch hätte weglassen können. Der Stoff entwickelt sich zu einer Milieustudie dieses Stadtteils, die Geschichte zweier Schwestern – einer Familie über vier Generationen. Eine Zwiespältigkeit durchzieht den Roman vom Anfang bis zum Ende. Mickey, die Ich-Erzählerin des Romans, versucht, den Leser zu manipulieren, indem sie sich kleinredet. Sie ist schwach und arm, hat nichts zu melden, aber sie sei ein gutes Mädchen und garantiert nicht dumm – Wir lernen jedoch im Lauf der Geschichte auch eine andere Mickey kennen. Stück für Stück blättert sich die Familiengeschichte auf – auch Mickey wird Neues über die Familie erfahren.
Präzise Sprache
Kälte in geschlossenen Räumen ist meiner Meinung nach noch schneidender als die Kälte im Freien.
Mickey ist alleinerziehend, für den Schichtdienst eine Herausforderung. Einen vernünftigen Babysitter zu bekommen ist schier aussichtslos. Die Öffnungszeiten von Kindergärten passen nicht in den Dienstplan. Mickey nimmt, was sie bekommt, eine unzuverlässige junge Frau, die eigentlich eher Interesse am Gehalt als am Kind zeigt, eine die dauernd zu spät kommt. Und so kommt auch Mickey zu oft spät zur Arbeit. Der Leser taucht ein in ein Stadtteil mit Krimskramsbuden, Handyläden, Imbissen, Fixershops, Straßenstrich, Kriminalität – trostlos, leere Häuser, in denen Drogenabhängige übernachten. Ein ehemaliges Arbeiterviertel, in dem noch einige die Fahne der Normalität hochhalten. Ambivalenz auf allen Seite. Zwei Schwestern, die eine bei der Polizei, die andere heroinabhängig auf dem Strich. Man beobachtet sich aus der Distanz. Doch plötzlich ist Kacey verschwunden. Niemand weiß, wo sie steckt. Mickey ist beunruhigt und sucht nach ihr. Ist sie eins der Opfer? Unter den Nutten geht das Gerücht herum, der Mörder sei ein Cop. Liz Moore hat hier einen starken Gesellschaftsroman vorgelegt, eine Familiengeschichte eingebunden, die Crime-Story rückt dabei in den Hintergrund. Eine Gesellschaft von Männern dominiert, von Gewalt an Frauen, eine Gesellschaft von Arbeitslosigkeit, Armut und Drogenmissbrauch geprägt. Tief geht Liz Moore in ihre Charaktere hinein. Sprachlich fein herausgearbeitet zeigt sie ein Gespür für Stimmung und Situationen, lässt Bilder im Kopf aufgehen. Aber hier ist nicht alles trist, auch wenn es anfänglich den Anschein gibt. Zwischen dem Straßendreck keimt Grün hervor. Menschen die zusammenstehen. Ein fein gezeichnetes Bild von Philadelphias Schmuddelecke, ein leiser Thriller.
Liz Moore geboren 1983, hat zunächst als Musikerin in New York gearbeitet und anschließend begonnen Romane zu schreiben. «Long Bright River» ist ihr vierter Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Liz Moore hat für ihre Romane u. a. den Rome Prize erhalten. Sie lebt mit ihrer Familie in Philadelphia.
Liz Moore
Long bright river
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Sprecher: Victoria Schätzle
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 13 Std. und 31 Min.
Gesellschaftsroman, Familiengeschichte, Thriller
Audible, 2020
C.H. Beck Verlag, 2020
Hardcover, 414 Seiten
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