Rezension
von Sabine Ibing
Ist alles deins!
von Jami Attenberg
Der erste Satz:
Er war ein wütender Mann, und er war ein hässlicher Mann, und er war hochgewachsen, und wieder einmal schritt er auf und ab.
Es ist ein langer, heißer Augusttag im New Orleans der Trump-Ära. Der 73-Jährige «Boss» Victor Tuchman, ein schwerreicher skrupelloser Geschäftsmann und brutaler Patriarch, erfolgreicher Bauunternehmer in New Jersey, kommt mit einem Herzinfarkt in die Notaufnahme. Seine Frau Barbara, gertenschlank, auffällig mit teurem Schmuck behängt und perfekt geschminkt, scheint nicht sonderlich besorgt. Gary, der Sohn, sich weigert, den Sterbenden zu besuchen. Tochter Alex ist nur hier, um die Mutter zum Reden zu bringen. Die Schwiegertochter Twyla zeigt wie immer als einzige Mitgefühl, setzt sich an sein Bett. Ein Familiendrama, das sich Stück für Stück in Rückblicken aufblättert.
Ein brutaler Mann, ein Schürzenjäger, ein Geschäftsmann. Ein Gangster?
Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er ins Gefängnis gehörte, in diesem Augenblick, wirklich. Wenn er nicht im Sterben läge. … Kein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie von ihm gehört: ‹Es tut mir leid.› Bei ihrem Vater ging es nur in eine Richtung, und das stand ihm zu, weil er der Vater war.
Eine jüdische Familie von der Ostküste; Victor Tuchman hat garantiert Dreck am Stecken. Aber welchen? Jami Attenberg macht den Leser genauso neugierig wie Tochter Alex. «Auch wenn sie das nie laut gesagt hätte, konnte sie nun kaum erwarten, dass ihr Vater starb, damit sie endlich die Wahrheit über ihn erfuhr.» Ein brutaler Mann, ein Schürzenjäger, ein Geschäftsmann. Ein Gangster? Geschäftsmann – Gangster, ist das in den USA nicht fast identisch? Die Zwischentöne sprechen ihre Sprache. Ein skrupelloser Patriarch, der sich einfach alles nimmt mit Frechheit oder Gewalt – was ihm dann wieder Anerkennung bringt. Macht und Abhängigkeit – alle Familienmitglieder kommen zu Wort – nur nicht Victor, denn der ist endlich still, liegt in den letzten Zügen. Multiperspektiv zeigt der Roman die Synthesen zwischen Täter und Opfer – denn in dieser Familie sind alle geschädigt durch Victor – und deckt ihre Mittäterschaft auf. Tyrannisch, jähzornig und rücksichtslos, wie ein Mann es nur sein kann, ein Grabscher, ein Vergewaltiger, ein Rassist. Alex weint ihm keine Träne nach. Und doch, er ist ihr Vater. Sie will von der Mutter die Wahrheit wissen – was genau hat er für Geschäfte gemacht, was war passiert, warum sind die Eltern umgezogen nach New Orleans, kann sie ihm verzeihen? Sie hat ihn bereits als Kind gehasst.
Für die materiellen Vorzüge war sie bereit, den Deal einzugehen
Einmal beim Essen sagte er vor der gesamten Familie zu ihrer Mutter, sie solle schleunigst mit ihr zum Arzt gehen.‹Da waren wir schon›, sagte die Mutter.‹Geht noch mal hin›, sagte er. ‹Was er ihr auch gegeben hat, es wirkt nicht.›Einmal, als sie in der ersten Woche der Sommerferien quiekend vor Vergnügen in den Pool gesprungen war, blickte er von seiner Zeitung auf und sagte: ‹Kleines Schweinchen im Pfuhl.›
Barbara wusste von Anfang an, was sie bekommt, wenn sie ihn heiratet, den Kontrollfreak: Einen Aufsteiger, der ihr erlauben würde zu kaufen, was ihr Herz begehrt; einen brutalen Ehemann, der zu Gewalt neigt. Aber für die materiellen Vorzüge war sie bereit, den Deal einzugehen, zu Schweigen.
Hin und wieder schlug er sie. Die Auseinandersetzungen waren dumm, belanglos, es ging um nichts, um Geld, das sie reichlich hatten. Nichts rechtfertigte jemals Gewalt, doch sie gewöhnte sich daran, und in gewisser Weise wusste sie so, dass er sie noch beachtete.
Die Kinder verlassen früh das Haus, aber so weit sie auch gehen, ihr Erbe steckt im Koffer, selbst die Enkel werden dem Einfluss von Victor nicht entrinnen können. Alex und Gary sind das Ergebnis von allem, was Victor tat, was er ihnen antat, was ihre Mutter nicht tat, um sie zu beschützen. Die Handlung spielt zur heutigen Zeit: «der Präsident war ein Vollidiot und die Welt zerfiel», und es gibt eine Menge Ähnlichkeiten zwischen Victor und Donald. Barbara erklärt an einer Stelle, er sei ein Söldner gewesen, der sich genommen hat, was er wollte. Aber der Leser wird nie erfahren, warum sie diesen Mann nie verlassen hat. Auch andere Dinge werden nur angedeutet – dem Lesenden wird Raum gelassen, dies zu interpretieren. Ein feines Gesellschaftsbild Amerikas wird hier geboten, das Abbröckeln des Patriarchats.
Aber es ging nicht nur um Belästigung, Verwaltungsassistentinnen, Handelsvertreterinnen, eine Büroleiterin, gegebene und wieder aufgekündigte Versprechen, Forderungen, Entlassungen, all das – obwohl es natürlich schrecklich war. Es ging um noch Schlimmeres: Um körperliche Misshandlungen.
Jami Attenberg, geboren 1971 in Illinois, studierte an der Johns Hopkins University in Baltimore und lebt in New Orleans. Sie hat Erzählungen und Romane veröffentlicht, die sich um das Glück und Unglück von Familien drehen. «Die Middlesteins» und «Nicht mein Ding» standen auf der New York Times-Bestsellerliste und wurden vielfach ausgezeichnet.
Ist alles deins!
Originaltitel: All This Could Be Yours
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Barbara Christ
Roman, Trump-Ära, Familienroman, amerikanische Literatur, Familiendrama, Drama, Bildungsroman
Gebunden mit Lesebändchen, 320 Seiten
Schöffling und Co. Verlag, 2021
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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