Rezension
von Sabine Ibing
Institut für gute Mütter
von Jessamine Chan
Die alleinerziehende Frida ist überfordert: Ihre kleine Tochter Harriet schreit und schreit; sie hat eine Mittelohrentzündung und alles, wonach sich Frida sehnt, ist eine halbe Stunde Ruhe und etwas Zeit für sich. Sie hat Homeoffice, muss ihre Arbeit erledigen und hat dummerweise Unterlagen im Büro vergessen. Schnell hinüberfahren und ein paar Minuten Ruhe haben. Sie setzt Harriet ins Actioncenter. Als sie allerdings nach zwei Stunden zurückkommt, hat die Polizei das Baby mitgenommen, eine Nachbarin hatte die Polizei gerufen. Bin ich eine schlechte Mutter?, fragt sich Frida.
Wird sie jemals eine gute Mutter werden?
Was dann folgt, in dieser Dystopie, ist der Albtraum einer jeden Mutter: Der «KSB Kinderschutzbund» (Warum erinnert mich das bloß an die Schweizer KESB? …) bestimmt, das Frida das Sorgerecht für ihre 18 Monate alte Tochter Harriet verliert und ein «Rehabilitierungsprogramm» läuft an, wobei die Wohnung von Frida mit Kameras verwanzt wird, man ihr tägliches Verhalten beobachtet und analysiert. Die wenigen Treffen mit Harriet werden unter der Aufsicht der Sozialpädagogin zum Alptraum. Denn Harriet macht nicht das, was die Frau von ihr verlangt – das Kind reagiert traumatisiert und verstört. Im Prozess gegen Frida wird im Gericht ausführlich ihr Verhalten analysiert und es endet damit, dass Frida zur Besserungsanstalt verurteilt wird. Im Institut für gute Mütter soll sie mithilfe einer KI-Puppe lernen, was es heißt, eine gute Mutter zu sein. 24 Stunden von Kameras überwacht, wird jedes unerwünschte Verhalten von Frida bestraft. Sie gibt sich Mühe, denn wenn sie am Ende die Prüfung besteht, darf sie vielleicht Harriet nach einem Jahr wiedersehen, in ihr altes Leben zurückkehren. Es gibt übrigens auch ein Institut für gute Väter, nicht weit entfernt. Bei dieser Kinderschutzbehörde bekommt man Schnappatmung beim Lesen. Für alles und jedes muss sich Frida rechtfertigen, auch dafür, dass sie Harriet eine zweite Muttersprache, also Bildung verweigert hatte und ihr kulturelles Erbe. Friedas Großeltern kamen aus China, aber sie selbst spricht die Sprache nur unzureichend. Egal, was Frida tut, man wird es gegen sie auslegen.
Eine gute Mutter stellt immer ihr Kind an erster Stelle.
Eine gute Mutter weiß, was ihr Kind braucht.
Eine gute Mutter kann die Schmerzen ihres Kindes durch ihre Liebe heilen.
Eine gute Mutter opfert sich für ihr Kind auf.
Eine gute Mutter kann alles schaffen, wenn sie ihr Kind wirklich liebt.
Ein brutal grusliger Roman, ein Bildungsroman, der es in sich hat
Harriet ist in guten Händen. Fridas Mann hatte sie für eine Jüngere verlassen, seine Pilatestrainerin, die perfekte Hausfrau. Das Institut für gute Mütter ist hart für alle Frauen, die dort maltretiert und erzogen werden. Frida beißt sich durch. «Ich bin eine schlechte Mutter, aber ich lerne, eine gute zu sein», ein Satz, der wie ein Gebet von den Frauen ständig wiederholt werden muss. Frida erhält eine KI-Puppe, an der sie trainiert wird. Wie blickt sie die Puppe an, wie spricht sie mit ihr. Selbst für Umarmungen gibt es Vorschriften: Nur nicht zu lang, maximal acht Sekunden. Und beim Kuscheln gehen wir auf eine gesunde Distanz, küssen niemals auf den Mund. Das Institut erinnert auf seine Weise verdammt real an die Beschreibungen aus den Umerziehungslagern aus China. Ein schauriger Roman mit einem Ende, mit dem der Lesende nicht rechnet. Ein brutal grusliger Roman, ein Bildungsroman, der es in sich hat. Was bedeutet es, eine gute Mutter zu sein, ein guter Vater?
Nur eine Dystopie?
Die Puppe vermerkt, wo die Mutter sie berührt, registriert Anspannung genauso wie Körpertemperatur und Haltung der Mutter, wie oft diese Blickkontakt aufnimmt und wie tief und aufrichtig ihre Gefühle sind.
So brutal sich diese Dystopie sich liest, ist sie gleichzeitig auch satirisch als schwarzer Humor zu verstehen. Wer bestimmt, was gute Eltern sind und wie weit darf der Schutz einer Kinderschutzbehörde gehen? Wo fängt Vernachlässigung an? Und inwieweit darf der Staat in die Erziehung eingreifen? Wer bestimmt die richtig und falsch? Was hier beschrieben wird ist höllisch brutal und schräg. Aber wer weiß, was sich ein Überwachungsstaat so alles ausdenkt …
Jessamine Chan, geboren in Chicago, studierte an der Columbia University und arbeitete bei Publishers Weekly. Ihre Kurzgeschichten erschienen in Tin House und Epoch. 2017 erhielt sie das Literaturstipendium der Elizabeth George Foundation für die Fertigstellung ihres Debütromans "Institut für gute Mütter". Chan lebt mit ihrer Familie in Chicago.

Institut für gute Mütter
Originaltitel: The School for Good Mothers
Aus dem amerikanischen Englischen von Friederike Hofert
Zeitgenössische Literatur, Dystopie, Bildungsroman, amerikanische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten
Ullstein Verlag, 2023
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