Direkt zum Hauptbereich

I‘m Glad My Mom Died von Jennette McCurdy - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





I‘m Glad My Mom Died 


von Jennette McCurdy

Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung



Unter meinen Augen, direkt am Wimpernrand, kleben kleine Papierstreifen, die mir in die Augen pieken könnten … In meinen Haaren stecken gefühlt tausend Streifen Alufolie … die schmerzhaft an meinen Haarwurzeln zerrt, oder Dämpfe des Bleichmittels, die mir in den Augen brennen. Die billigen Whitestripes-Schienen kleben auf meinen Zähnen.

Sie ist sechs Jahre alt, als die in Hollywood lebende Jennette von ihrer Mutter Debora von einem Casting zum nächsten schleppt: Sie soll ein Star werden. Homeschooling, Tanzkurse, Gesangsunterricht, Schauspielunterricht, Autitions, Castings, Recalls – von einer Agentur zur nächsten. Rollen lernen. Die ersten kleinen Besetzungen in Werbung und Nebenrollen kommen herein. Das Leben von der kleinen Jennette ist durchgetaktet. Ich würde es als Kinderarbeit bezeichnen. Denn ihr Einkommen trägt zum Familieneinkommen bei, ist der Hauptanteil. Aber Jennette mag keine Schauspielerin sein – sie hasst den Job! Haare und Wimpern färben, Zahnweißer, der dreimal so lange einwirkt, wie auf der Packung empfohlen, Rüschchenkleider; Freunde hat sie nicht, fürs Privatleben gibt es keine Zeit. Immer nur lächeln, auch wenn einem nicht danach ist. «… die Vorsprechen machen jedes Mal ein nervöses Wrack aus mir. Dieser ständig quälende Druck ausgewählt zu werden, und die Enttäuschung, nicht genommen zu werden.» Auf Kommando heulen, ist ihre Spezialität. Anpassen, Anordnungen folgen, alles mit sich machen lassen, nett sein, darauf wird sie von der Mutter konditioniert.


Machtmissbrauch


Spaß ist nichts, womit ich mich besonders gut auskenne. Das Leben ist eine ernste Angelegenheit. Man hat eine Menge um die Ohren. Vorbereitet sein, hart arbeiten und hut abschneiden, das ist viel wichtiger als Spaß.


Mit elf Jahren geht es los mit den Diätplänen. Salat ohne Dressing, Wasser, vielleicht mal ein Stück Hähnchenbrust. Irgendwann kommt der Durchbruch mit der TV-Serie «iCarly» – Jennette wird ein Kinderstar. In der Rolle als hitzige Sam Puckett, die gerne Chickenwings isst und mit einer Buttersocke um sich schlägt, wird sie berühmt mit 109 Episoden. Jeder kennt sie – niegendwo kann sie mehr hingehen, ohne belästigt zu werden, Paparazzi folgen ihr. Keine Sekunde im Leben von Jennette ohne Mom. Sie wird von der Mutter geduscht, die ihre Haare wäscht, auch noch als Jennette volljährig ist. Die Mutter bestimmt alles. Seit sie denken kann, wird sie von ihrer Mutter beherrscht, emotional erpresst und psychisch wie körperlich missbraucht. Das Einzige, was Debra sich für ihre Tochter – aber vor allem für sich selbst – wünscht, ist Jennettes Erfolg als Fernsehstar. Mit über 20 zieht sie in eine eigene Wohnung. Endlich kann sie essen, was sie will, stürzt sich in Fressattacken. Essstörungen, Alkoholsucht, Angstattacken und Selbsthass sind das Ergebnis dieses Lebens. In der Nickelodeon-Serie «iCarly» fühlt sie sich gedemütigt, dem Machtmissbrauch des Produzenten ausgesetzt. Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hat Jennette nie gemocht, «mit sechzehn begann ich den Ruhm gründlich zu verabscheuen, aber jetzt, mit einundzwanzig, verachte ich ihn». Jennette führt ein leidvolles Leben.


Die andere Seite des Ruhms


Ich weiß, dass ich verbittert gworden bin. Ich weiß, ich bin nachtragend geworden. Aber das ist mir sch...egal. Ich habe das Gefühl, dass mir diese Serie meine Jugend gestohlen hat, eine normale Adolezenz, in der ich hätte leben können, ohne dass jede Kleinigkeit an mir kritisiert, diskutiert oder lächerlich gemacht wird.


Als Debra an wiederkehrendem Krebs verstirbt, ist Jennette 21 Jahre alt und hat das Zentrum ihres Lebens verloren, nur toxische Beziehungen begleiten ihren Weg. Ihre Mutter hat ihr nie verziehen, dass sie ihr eigenes Leben leben will, macht sie sogar dafür verantwortlich, dass ihre Krebserkrankung zurückkehrte. Um die Bulimie in Griff zu bekommen, begibt sie sich in eine Therapie, bricht an dem Punkt ab, an dem sie sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen soll – denn eine Heilige kann man nicht vom Sockel stürzen. Erst später, in einer weiteren Therapie erkennt sie, wie sehr ihr ihre narzisstische Mutter das Leben zerstört hat. Es ist ein langer Weg, zu begreifen, dass sie nur dann ein selbstbestimmtes Leben führen kann, wenn sie sich aus den Klammern ihrer narzisstischen Mutter löst, Gefühle zulässt, zulässt, die Mutter zu sehen, wie sie wirklich war, mit welchem Trauma sie selbst leben musste. Erst dann kann sie ihre Mutter wirklich beerdigen. Es ist erschütternd zu sehen, wie die Mutter das Kind indoktriniert, klein hält und dressiert, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Die andere Seite des Ruhms, das Leiden von Kinderstars. Eine lesenswerte Biografie.


Jennette McCurdy war eine der Hauptdarstellerinnen in Nickelodeons Hit-Serie iCarly, deren Spin-off Sam & Cat sowie in der Netflix-Serie Between. Im Jahr 2017 beendete sie ihre Karriere als Schauspielerin und begann als Regisseurin und Drehbuchautorin zu arbeiten. Ihre Filme wurden im Rahmen vieler Festivals gezeigt, darunter das Florida Film Festival, Salute Your Shorts Film Festival, Short of the Week und einige andere. Ihre Essays erschienen in der Huffington Post und im Wall Street Journal. Ihre One-Woman-Show I’m Glad My Mom Died hatte zwei ausverkaufte Aufführungen im Lyric Hyperion und im Hudson Theatre in Los Angeles. Sie moderiert den Podcast Empty Inside, der Top-Platzierungen in den Apple-Charts erreichte und in dem sie mit Gästen über unangenehme Themen spricht. Sie lebt in Los Angeles. 



Jennette McCurdy
I‘m Glad My Mom Died
Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung 
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Henriette Zeltner-Shane und Sylvia Bieker 
Autobiografie, Narzissmus, Kinderstar, Amerikanische Literatur
Taschenbuch, 384 Seiten
Fischer Verlag, 2023


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

80 Jahre Befreiung KZ Auschwitz - Literatur zum Thema

  80 Jahre Befreiung KZ Auschwitz Auschwitz steht für den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti und Roma und anderen Verfolgten. Auschwitz ist Ausdruck des Rassenwahns der NS-Regierung und ein Mahnmal der deutschen Geschichte. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, ein Mahntag, ein trauriger Gedenktag an eine totalitäre Regierung, die von Völkerhass getrieben wurde. Eine Mahnung gegen Faschismus und Nationalsozialismus, eine Erinnerung, eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte.  Das Wiedererwachen von neuem Antisemitismus in Deutschland und eine Zunahme antisemitischer Gewalttaten ist erschreckend! Nie wieder Rassenhass, nie wieder Antisemitismus, nie wieder Faschismus und und Nationalsozialismus in Deutschland! Vor 75 Jahren – am 27. Januar 1945 – befreiten sowjetische Truppen das Vernichtungs- und Zwangsarbeitslager Auschwitz – ein Konzentrationslager. Hier wurden Millionen von Menschen abgeschlachtet – vergast. In der Hauptsache Menschen mit jüdisch...

Rezension - Caledonian Road von Andrew O´Hagan

  Gesprochen von: Maximilian Laprell Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 24 Std. und 57 Min. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend zählt Professor Campbell Flynn, 52 Jahre alt, heute zur Elite des Vereinigten Königreichs: seine Frau, die Tochter einer Gräfin; sein bester Freund seit Studienzeiten, ein Industrieller; sein Schwager, ein Politiker mit Einfluss; sein Leben getaktet von Vorträgen, Vernissagen und Society-Events. Ein spannendes britisches Gesellschaftsporträt, das im London unserer Zeit spielt, Zeitgeschichte pur, der Aufstieg und Niederfall der russischen Oligarchen inklusive, Brexit, arrogante Oberschicht, das Los der Einwanderer – hier findet alles zusammen, was Großbritannien gesellschaftlich die letzten Jahrzehnte durchlebte. Cancel Culture, Gender bis hin zu Corona, Ukrainekrieg, illegale Einwanderung, Kolonialschuld und kulturelle Aneignung, zu kriminellen Banden, Drogen; ein weitumfassendes Werk, grandios, dies alles einzubinden, ohne, dass es zusammengeschustert wir...

Rezension - Moor Myrte und das Zaubergarn von Sid Sharp

  Im Moor, im wirklich finsteren Wald, lebt die unheimliche Moor Myrte, die jeden in eine Fliege verwandelt, der die Natur nicht respektiert. Am Waldesrand wohnen zwei Schwestern, die gutherzige Beatrice, immer bei bester Laune und die griesgrämige Magnolia, die stets friert, weil ihr ein Pullover fehlt. Beatrice versucht, Fundstücke aus dem Wald in der Stadt gegen Wolle einzutauschen, erntet aber nur Gelächter. Sie glaubt, ein warmer Pullover könnte die Stimmung ihrer Schwester heben. In ihrer Not sucht sie die Moor Myrte auf, die sie sogleich in eine Fliege verwandeln will und zum Frühstück vertilgen möchte. Ein klasse Kinder - Comic, ein herrliches Märchen! In seiner Graphic Novel zeigt Sid Sharp auf kindgerechte Weise, wie Konsumgier und Ausbeutung unserer Gesellschaft schaden; und er mahnt gleichzeitig zum verantwortungsvollen Umgang mit der Natur. Klasse humorvolles Kinderbuch ab 6-8 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Moor Myrte und das Zaubergarn von Sid S...

Rezension - Hold still von Nina LaCour

  Ingrid hat Suizid verübt. Die Familie, die Freunde, alle sind schockiert. Warum hat niemand gemerkt, wie schlecht es ihr geht? Auch Caitlin macht sich Vorwürfe. Sie ist ihre beste Freundin und hätte etwas merken müssen, oder? Sie ist völlig von der Rolle, und dann findet sie auch noch Ingrids Tagebuch unter ihrem Bett. Ingrid muss es mit Absicht dort hinterlassen haben, damit sie es liest. Jeden Tag nur ein Kapitel, nimmt sich Caitlin vor. Vielleicht wird sie am Ende verstehen, weshalb Ingrid nicht mehr leben wollte. Ein realistisches Jugendbuch über Freundschaft, Verlust, Trauer und das Erwachsenwerden ab 14 Jahren. Empfehlung für den Jugendroman! Weiter zur Rezension:    Hold still von Nina LaCour

Rezension - Tödliche Algarve von Carolina Conrad

  Ein einsamer Wanderweg. Ein Knall, dann Stille. Tödliche Stille. Auf einem uralten Pilgerweg verschwinden innerhalb kurzer Zeit drei Wanderer. Für Chefinspektor João Almeida besonders heikel: Eine der Vermissten ist seine Halbschwester Liliana. Die Leiche einer jungen Britin wird gefunden, von Wildschweinen verstümmelt. Das Wort Mord wird zunächst verboten, denn es könnte ein Jagdunfall gewesen sein, entscheidet der Staatsanwalt. Zu wichtig ist der Wandertourismus für das ländliche Hinterland der Ostalgarve. Kurz danach wird unweit der ersten Leiche eine weitere gefunden, ein Deutscher. Doch einen Messerstich im Bauch kann man nicht mehr abtun. Zwei Ausländer ermordet auf dem Pilgerweg – jetzt ist Vorsicht geboten in der Ermittlung. Leider war irgendwann die Spannung weg. Viele Themen angerissen, es fehlt aber die Message. Weiter zur Rezension:    Tödliche Algarve von Carolina Conrad

Rezension - Ein Eisbär im Schnee von Mac Barnett und Shawn Harris

  Ein Eisbär macht sich auf den Weg durch eine glitzernde Landschaft aus Eis und Schnee. Wohin er wohl geht? Zu den Robben? Zu den Menschen? Oder ins Meer? Und was hat er vor? Wer weiß … Dieses Bilderbuch beeindruckt durch seine Illustration aus Fotocollagen. Weiß auf Weiß, ein Schattenspiel.  Klasse Bilderbuch ab 4 Jahren. Weiter zur Rezension:    Ein Eisbär im Schnee von Mac Barnett und Shawn Harris

Rezension - Urban Watercolor Workbook von Sue Hiepler

  Finde deinen eigenen Stil mit kreativen Übungen Mit Sue Hieplers neuem Übungsbuch soll man einen eigenen Malstil zum Urban Watercolor finden und verfeinern. Es gibt Schritt-für-Schritt-Anleitungen zum Skizzieren von urbanen Motiven, Aktivseiten, Homework-Einheiten und Platz zum Ausarbeiten von kleinen Objekten. Leider bin ich eher enttäuscht von diesem Buch. Einen eigenen Malstil zum Urban Watercolor wird man hier nicht finden. Häuserfronten wie die Perlen auf einer Reihe ohne Hintergrund und Perspektive mit dem Lineal gemalt. Einzelne Teile wie Verkaufswagen, Fenster usw., aber keine Bildkomposition. Auf keinen Fall etwas für Anfänger. Weiter zur Rezension:    Urban Watercolor Workbook von Sue Hiepler

Rezension - Outline von Michèle Fischels

  Das letzte Schuljahr vor dem Abitur ist in dieser Graphic Novel angebrochen… der Ernst des Lebens beginnt, irgendwo in einer größeren Stadt. Eine Zeit, in der die Welt wie immer scheint, die aber doch alles in der Zukunft ändern wird. Zensuren entscheiden; überhaupt, große Entscheidungen stehen an. Wohin wird dich der Weg des Lebens tragen? Studieren, nicht studieren, wenn ja, was studieren – wo bewirbt man sich? Das Zuhause verlassen, die Familie, den Freundeskreis – vielleicht eine Beziehung. Der Umbruch wird dich verändern – alles kann sich verändern. Erzählerisch wie zeichnerisch setzt Michèle Fischels die letzte Phase vor dem Abitur hervorragend um. Comic ab 16 Jahren, Allage – Empfehlung! Weiter zuer Rezension:    Outline von Michèle Fischels