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Hand aufs Herz von Anthony McCarten - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Hand aufs Herz 


von Anthony McCarten

Gesprochen von: Rufus Beck
Gekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 18 Min.


Der Anfang: 

Am Morgen vor dem Wettbewerb sah Tom Shrift von seinem Fenster im ersten Stock aus zu, wie sein Nachbar seinen kleinen Rasen mähte. Hin und her zog er seine Bahnen, bis er sechs exakt parallele Streifen hatte, hellgrün, dunkelgrün, hellgrün, dunkelgrün; und ebenso wechselten in Toms Bauch die Gefühle – Neid, Wut, Neid, Wut.


Ein irrwitziger Wettbewerb: ein Ausdauerwettbewerb, bei dem ein glänzendes neues Auto zu gewinnen ist: Neben dem Auto stehen, die Hand auflegen. Mehr ist nicht zu tun. Wer es am längsten aushält, gewinnt das Auto. Doch für zwei der vierzig Wettbewerbsteilnehmer in Anthony McCartens Roman geht es nicht ums Gewinnen, sondern ums nackte Überleben. Und auch für den Autohändler hängt alles davon ab, denn er glaubt, sich damit gratis Publicity zu schaffen. Wenn er nicht endlich ein paar Autos verkauft, ist er pleite. Die Verkäufer murren bereits, weil sie zeit zwei Monaten auf ihr Gehalt warten. Für das Guinnessbuch der Rekorde soll Weltrekord gebrochen werden. Doch die Medien springen nicht an. Einer der Teilnehmer ist Tom, der mit seinem Unternehmen für Grußkarten gerade pleite gegangen ist. Er braucht unbedingt Geld. Er sieht sich bereits als Gewinner; denn niemand ist besser und stärker als der supergeniale Tom. Jess ist Politesse, die ihren Mann bei einem Unfall verlor. Ihre Tochter ist seit diesem Tag querschnittsgelähmt. Sie hat ein Stipendium für eine Privatschule erhalten. Und Jass braucht den Landrover, um die Tochter mit Rollstuhl zur Schule fahren zu können. Diese beiden sind sich bereits einen Tag vor dem Wettbewerb über den Weg gelaufen. 


Hand auf den Wagen!


Die Frau tippte weiter ihre Daten ein.

‹Sie stellen mir wirklich einen Strafzettel aus? Sie stellen mir… Ich fass es nicht – Das kann doch nicht… Leute wie Sie, das ist wirklich zu viel… beschissene Blutsauger wie Sie. Scheißvampire. Wisst ihr eigentlich, was ihr seid? Konkubinen des Satans!› Daraufhin blickte sie auf – immerhin, er hatte endlich einen Kontakt hergestellt. Diesen Moment der Schwäche machte er sich sofort zunutze. ‹Schämen solltet ihr euch. Wie Leute wie Sie es mit sich selbst aushalten, ist mir ein Rätsel. Also, was… was kostet das? Das Strafmandat? Wie hoch ist es?›


40 Menschen, denen ihre Existenz entglitten ist und die trotz allem die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht aufgeben wollen. Der Wettbewerb fördert bei vielen ihre schlimmsten Seiten zutage, anderen verhilft er zu neuen Perspektiven. Wer wird gewinnen? Frauen sagt man nach, sie seien zäher, aushaltender, wogegen Männer stärker sind. Aber bei diesem Match zählt innere Stärke. Werden die Jüngeren gewinnen oder die alten Säcke? Tom tippt auf die Alten. Oder wird der am längsten aushalten, für den das innere Ziel am notwendigsten ist? Wehe, wenn einer loslässt! Sobald ein Teilnehmer die Hand vom Wagen lässt, jemand das sieht, soll er es unverzüglich melden. Gibt es einen Zeugen dafür, scheidet er aus – so die Guinness-Regeln. Den Originaltitel «Show of Hands» fand ich wesentlich passender.


Ein spannendes Psychodram mit einer feinen Figurenzeichnung 

Sie stehen eng zusammen, reden, kommen sich näher … Der arrogante, zynische Tom entwickelt sich zum Gruppenarschloch. Und als die Medien dann doch aufspringen, wird Jass zum Publikumsliebling. Alle zwei Stunden gibt es eine Toilettenpause – und wer nicht schnell genug an der Tür ist, muss entweder abbrechen oder bis zum nächsten Mal verkneifen. Irgendwann werden die Beine schwer und es gilt: bloß nicht einschlafen! Reichen die fünf Minuten Pause, um beim Imbiss um die Ecke Kaffee und Burger zu besorgen? Anthony McCarten beschreibt auf der einen Seite die Teilnehmer in diesem Wettbewerb, ihre Motivation und parallel dazu die Gruppendynamik, die auf dem engen Raum zwischen den Konkurrenten entsteht. Freundschaft, Feindschaft, Hass, Respekt, Bewunderung – gegenseitige Hilfe – hier ist alles drin. Doch am Ende geht fast jeder (es werden nicht alle überleben) mit einem persönlichen Gewinn aus diesem Wettbewerb heraus, mit Selbsterkenntnis und die Kraft, eine Lösung für sich zu finden. Dieser Roman ist ein spannendes Psychodram mit einer feinen Figurenzeichnung und einer guten Würze mit schwarzem Humor. Ein Ohrenschmaus als Hörbuch, da Rufus Beck jeder Figur einen eigenen Tonfall gibt. Empfehlung!


Anthony McCarten, geboren 1961 in New Plymouth/Neuseeland, schrieb als 25-Jähriger mit Stephen Sinclair den Theaterhit ›Ladies Night‹. Es folgten Romane und Drehbücher, für die er schon mehrere Male für einen Oscar nominiert war (u.a. zu den internationalen Filmen ›The Theory of Everything‹ und ›Darkest Hour‹ und ›Bohemian Rhapsody‹). Er lebt in London. Oscar-Nominierung ›Bestes Drehbuch‹ für Die zwei Päpste, 2020 und  Oscar-Nominierung ›Bester Film‹ für Darkest Hour, 2018



Anthony McCarten
Hand aufs Herz
Originaltitel: Show of Hands
Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allie
Gesprochen von: Rufus Beck
Gekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 18 Min.
Zeitgenössische Literatur, Psychodram, Drama
Diogenes, Audible, 2009
Diogenes Verlag, 2009, Taschenbuch, 336 Seiten




Going Zero von Anthony McCarten 

Hat man als Einzelner eine Chance gegen das geballte System? Die junge Bibliothekarin Kaitlyn aus Boston ist entschlossen, es zu versuchen – ihr bleibt keine Wahl. Sie hat sich als Kandidatin für einen Betatest beworben, um 3 Millionen Dollar zu gewinnen. Hierbei muss sie sich lediglich vor dem Überwachungssystem verstecken, unauffindbar sein. Die Firma FUSION, die dem Social-Media-Mogul Cy Baxter gehört, hat für ein Projekt der US-Geheimdienste eine neue Software entwickelt, will sie nun prüfen. Man hat sich 20 Probanden ausgesucht, 10 «Normalos» und 10 Cyber-Fachleute. Wem es gelingt, 30 Tage nicht auffindbar zu sein, dem winkt die Belohnung. Ein Thriller, ein Pageturner mit dem Thema Überwachungssystem und Datenkraken. Anthony McCarten ist Drehbuchautor, was sehr deutlich dem Plot anzumerken ist – eine typische Heldenreise a la Hollywood. Gute Unterhaltung!

Weiter zur Rezension:   Going Zero von Anthony McCarten 


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane



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