Direkt zum Hauptbereich

Gestapelte Frauen von Patrícia Melo - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Gestapelte Frauen 


von Patrícia Melo


Das wahre Schafott der Frauen ist die Ehe.


Amir ist wie sie ein Jurist und sie verliebt sich in ihn, den charmanten, intelligenten, warmherzigen Mann, der ihr zu Füßen liegt. Doch bei einer Party zieht er sie in die Toilette, völlig aufgelöst, eifersüchtig. Auf wen oder was? Dann die Ohrfeige und das Wort Schlampe. Sie macht mit ihm Schluss. Sie will nicht enden wie ihre Mutter: tot. Amir liegt aber auf der Lauer. Er gibt sie nicht auf. Um so weit weg wie nur möglich von ihm zu sein, nimmt die junge Anwältin aus São Paulo eine Stelle im entlegenen Cruzeiro do Sul an, einer Urwaldprovinz, wo sie als Beobachterin an Gerichtsverhandlungen teilnimmt – Prozessen zu brutalen Frauenmorden. Sie arbeitet für eine Organisation, die den juristischen Umgang mit Femziden dokumentiert und anprangert, ein Buch herausbringen will – denn alle Täter kommen frei, werden nie verurteilt – die Frauen sind selbst schuld. Der Roman ist harte Kost! Das auf zwei Ebenen: Die Fälle an sich gehen tief unter die Haut – aber was viel schlimmer ist: Hier ist nichts fiktiv, der Femizid ist tagtägliche Realität!


Sie ist nur eine Indigene


GETÖTET VOM VATER

Sie war achtundvierzig Tage alt, als sie

erwürgt wurde.

Auf der Polizeiwache gab der Mörder

an, ‚er sei sehr nervös gewesen und

habe geglaubt, das Kind sei nicht seine

Tochter.


Zu Beginn eines jeden Kapitels steht in knappen Worten einer dieser Morde beschrieben, reale Fälle. Systematische Femizide, bekannt aus Mexiko und Indien; aber auch in Brasilien und in anderen Ländern Lateinamerikas werden täglich Frauen ermordet, meist von Ehemännern, Lebenspartnern oder Vätern. Der erste Prozess behandelt den Fall der vierzehnjährigen indigenen Txupira, die von drei jungen weißen Männern aus betuchten Familien vergewaltigt, gefoltert und ermordet wurde. Die Sachlage ist eindeutig, mehr Beweise kann es nicht geben, die Täter leugnen nicht mal ihre ihre abscheuliche Tat. In der Nacht kann die Icherzählerin nicht schlafen. Auf der Suche nach Wasser hört sie Geräusche aus der Hotelküche. Dort sitzen einige männliche Schöffen zusammen mit dem Verteidiger der Angeklagten und dem Hotelier, verhöhnen die Tote. Diese Menschen dürfen nicht gemeinsam an einem Tisch sitzen, schon gar nicht sich über den Fall unterhalten! Und selbstverständlich werden die jungen Männer am nächsten Tag nach ziemlich kurzer Besprechung der Schöffen wieder freigesprochen. Ein Schock für die Juristin und für die Staatsanwältin Carla, mit der sich die Icherzählerin anfreundet, ebenso mit der Journalistin Rita, der sie ein heimlich aufgenommenes Küchenfoto zukommen lässt. Der Artikel schlägt ein, ändert aber nichts. Diese drei Frauen leben gefährlich ...


Keiner der Männer wird verurteilt


Der Tod meiner Mutter war mehr als meine Identität. Er war ein Sprengstoffgürtel, den ich am Leib trug. Um den Zünder zu aktivieren, reichte es aus, dieses Thema anzuschneiden. Ich wollte nicht darüber reden. Mit niemandem.


Es folgen weitere Prozesse. Um das aushalten zu können, flüchtet die junge Anwältin immer wieder ins Amazonasgebiet, ins Dorf von Txupira, zu der indigenen Gemeinschaft. Sie beschreibt die Schönheit des Urwalds, erfährt etwas über die Geschichte von Acre. Die einstigen Dörfer wurden damals von den Kautschukpflanzern vernichtet, die Indigenen versklavt oder vertrieben. Sie wurden ihrer Heimat, ihrer Felder, ihres Lebensunterhalts beraubt, leben verarmt, versuchen sich mit dem Handel von Drogen aus Bolivien über Wasser zu halten. «Die Indigenen sind in unserer Gesellschaft schlicht und einfach nicht existent. Sie sind ausgerottet worden», erklärt man ihr, sie sind rechtlos. 


Eine öffentliche Anklageschrift 


GETÖTET VOM EHEMANN

Lilian Maria de Oliveira wollte den

Ton des Fernsehers lauter stellen oder

leiser, was genau, ist nicht bekannt ...

Der Mann ging in die Küche, holte ein

Messer und tötete sie mit einem gezielten

Stich in den Bauch.


Bei den Indigenen nimmt die Icherzählerin an Ayahuasca-Ritualen der Frauen teil, und im Rausch hat sie Visionen von Amazonen, die mit Pfeil und Bogen die Täter verfolgen. In ihren Trancen jagen die Frauen die Männer. Tief im Unterbewusstsein verarbeitet sie Erlebtes. Die Frau ist Begierde, Besitz, Abfall – und wenn sie es wagt, aufzumucken, muss sie getötet werden, oder einfach zum Spaß – ein Trauma der Frauen. Die Anwältin sammelt Beweise für ein Buch, für eine öffentliche Anklageschrift – über 10.000 tote Frauen in den Akten; jeden Tag werden im Schnitt elf Frauen in Brasilien Opfer eines Femzides, eines ungesühnten Verbrechens. Und so entsteht aus diesem Roman, der den Leser durch die Prozesse führt, eine Anklage gegen das Patriarchat. Sprachlich gekonnt wechselt Patrícia Melo vom Ton der Reportage in die erzählende Form, beschreibt mit allen Sinnen den Urwald, und wechselt in den Taumel des Unbewussten, schnell, bunt, berauscht von den Ayahuasca-Ritualen. Auch der Leser hat Zeit zum Luftholen, gleitet hinein in die Schönheit des Dschungels, erlebt die eigene Wut in den Amazonenträumen. 


Es braucht noch mehr solcher Romane aus allen Teilen dieser Welt


Und jetzt war ich dort, und mein Herz tanzte mit den Messern. Und Carla war tot. Rita war tot. Meine Mutter war tot. Um mich herum stapelten sich die toten Frauen. All die Namen, die ich in meinem Heft notiert hatte. All die vergeudeten Leben. Aber ich lebte.


Patrícia Melo hat ein wichtiges Buch geschrieben, eins das schwer zu genießen ist, Leser*innen reales Grauen vorstellt. Und weil diese Geschichten keine Fiktion sind, lösen sie Übelkeit aus und Wut. Es braucht noch mehr solcher Romane aus allen Teilen dieser Welt, damit auch der Letzte aus dem Dornröschenschlaf aufwacht und versteht, warum diese Welt noch lange nicht für Frauen in Ordnung ist. Misogynie ist existent - Frauenrechte fehlen.


Patrícia Melo zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur «führenden Schriftstellerin des Millenniums» in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano. 



Patrícia Melo 
Gestapelte Frauen
Originaltitel: Mulheres Empilhadas
Roman, Lateinamerikanische, Brasilien, Femizid, Misogynie
Aus dem brasilianischen Portugiesischen von Barbara Mesquita
Hardcover, 256 Seiten
Unionsverlag, 2021



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige. «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille, zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann. Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983, der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim