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Für eine kurze Zeit waren wir glücklich von William Kent Krueger - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing




Für eine kurze Zeit waren wir glücklich 


von William Kent Krueger


Der erste Satz: Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten.

Im Sommer des Jahres 1961 geht der Tod durch New Bremen. Ein kleiner Junge gerät unter die Eisenbahn, ein Unfall? Oder hatte ihn jemand geschubst? Der dreizehnjährige Frank und sein Bruder Jake wissen es genau: An den Gleisen darf man nicht spielen. Doch zu interessant sind die Schienen. Und so entdecken sie den nächsten Toten. Der starb allerdings eines natürlichen Todes. In diesem Sommer wird noch viel passieren: Unfälle, versuchter Selbstmord, vollendeter Selbstmord und Mord. Ein kleiner Ort, jeder kennt sich, Freundschaft, Feindschaft, reich und arm, die gesamte Palette der Gesellschaft wird aufgeblättert. Außenseiter, ob gewollt oder in die Rolle hineingepresst, spielen hier eine große Rolle. Mittendrin stehen Frank, der stotternde Jake und ihre große Schwester Ariel, die demnächst studieren wird; ihr Vater ist der Prediger der Gemeinde, der alle Toten zu Grabe trägt. Eigentlich ist er Jurist. Er hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft und danach beschlossen, ein Gottesmann zu werden, seinen Seelenfrieden auf diese Weise zu finden. Anders als Gus, der sich öfter besäuft, sein Kriegskamerad, den die Familie aufgenommen hatte, der im Keller der Kirche wohnt und Hilfsarbeiten für die Gemeinde leistet. Der Mutter gefällt es nicht, dass Gus sozusagen zur Familie gehört, aber sie nimmt es hin. Sie hatte sich das Leben anders vorgestellt, als sie damals einen Juristen heiratete. Sie ist mit dem Kirchenchor beschäftigt, in dem sie völlig aufgeht. Kochen ist ihr eine Last, eigentlich gibt es nur Aufgewärmtes und Sandwiches. Spaghetti aus der Dose landen oft auf den Tellern – und wenn die Mutter gute Laune hat, brät sie Hackfleisch, das sie mit den Dosenspaghetti mischt. Der Sonntag gehört der Kirche: Der Vater hat drei Gemeinden zu betreuen, was bedeutet, drei Messen in drei Gemeinden zu geben; Ariel spielt die Orgel, die Mutter leitet den Chor, die Jungen sitzen drei Mal auf der Kirchenbank.

Ein Drama gleitet in das nächste

In den Bäumen zwitscherten schon die Vögel. über den Hügeln, die das Tal um den Minnesota River umgaben, sah ich einen dünnen, leuchtend roten Streifen am Himmel: Die Morgendämmerung nahte. Und ich sah noch etwas. Auf der anderen Seite löste sich eine vertraute Gestalt aus dem Schutz der Fliederbüsche … Ich sah, wie meine Schwester über den Rasen schlich und durch die Hintertür ins Haus glitt.

Eine Familiengeschichte, ein Coming of Age Roman in nostalgischer Stimmung der 60-er Jahre in einem kleinen Ort mit weiter Landschaft, die in schönen Textvignetten eingefangen wird. New Bremen liegt am Minnesota River, an der Grenze zu Wisconsin, Nähe dem Lake Superior, Nähe der kanadischen Grenze, eine Gegend, in der sich viele Deutsche Einwanderer niederlassen haben. Ein Roman, der langsam diesen Sommer aufrollt, ruhig immer weitere Handlungsstränge verknüpft. Erwachsenwerden, eigene Wünsche für das Leben, Familienfesseln, Gewalt, Loyalität gegenüber der Familie, Akzeptanz des Andersseins, Ereignisse, die das eigne Leben verändern; Zusammenhalt, Schuld, Verlust, Schmerz, Vergebung, eine Menge Themen, die das eigene Leben beeinflussen, werden hier angesprochen. Der Roman ist ein Thriller, die Bedrohung ist von der ersten Seite spürbar. Aber es ist auch eine sehr langsame Erzählung, so dass sich der Piper Verlag wohl dazu entschieden hat, es schlicht unter der Rubrik Roman zu veröffentlichen. Eine gute Erzählung – die allerdings ziemliche Längen hat und und in erzählerischer Kraft lange nicht an die großen Erzähler herankommt. Der Klappentext hat mich verärgert, der dreiviertel des Romans bereits zusammenfasst. Als Leser wartet man auf das Ereignis …, das dann erst zum Ende eintreten wird.

William Kent Krueger, 1950 in Wyoming geboren, arbeitete nach seinem Studium in Stanford als Bauarbeiter und Journalist. Einem großen Publikum wurde er mit seiner Krimireihe um den Ex-Sheriff Cork O’Connor bekannt. «Für eine kurze Zeit waren wir glücklich» ist Kruegers erster literarischer Roman, mit dem er zum achten Mal in Folge den Sprung auf die Bestsellerliste der New York Times schaffte.


William Kent Krueger 
Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
Original: Ordinary Grace
Roman, literarischer Thriller
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von: Tanja Handels
Piper Verlag, 2019, 416 Seiten, Hardcover


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