Direkt zum Hauptbereich

Estela und die Liebe zu den Wörtern von Mamen Sánchez - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Estela und die Liebe zu den Wörtern 

von Mamen Sánchez


Der Anfang: Alicia war süß wie getrocknete Weinbeeren. Estela hatte eine harte Schale, die so bitter war wie die der Johannisnuss.

Schon die Namen sind imposant: Tony Cienfuegos (Hundertfeuer) und Estela Valiente (die Mutige). Aber ist Estela Valiente mutig? Vor fünfzig Jahren hatte sie als erste Spanierin den Literaturnobelpreis gewonnen. In ihrem Land allerdings war die damals junge Frau für diesen unerhörten, schmutzigen Roman »Hinter verschlossenen Türen« ins Gefängnis gegangen, samt ihrer Verlegerin – das Buch zensiert, weil es von der Notwendigkeit der Gleichstellung von Männern und Frauen sprach, gegen Gewalt in der Familie. Der Roman kam zu weltweitem Ruhm, die Autorin erhielt den Literaturnobelpreis und damit endlich die Aufmerksamkeit in Spanien. Danach hat Estela Valiente nie wieder ein Buch geschrieben, sie war nicht einmal nach Stockholm gefahren, ihren Preis abzuholen. Seit dieser Zeit wohnt sie zurückgezogen in ihrem Heimatort Los Rosales, eine Stunde von Madrid entfernt im Haus ihrer Familie, zusammen mit ihrer Schwester Alicia. Mit ein paar engen Freunden lässt sie es einmal in der Woche bei sich zu Hause ordentlich krachen.

Seither widmete sie sich zwanghaft, gierig fast, in der Art einer Ernährungsstörung, der Lektüre – eine nervöse Bulimie, die zu Übelkeit und Erbrechen führte, zu Abhängigkeit und Besessenheit.

Die Liebesbriefmörderin ist der Türöffner

Die junge Journalistin Maya weiß, dass Estela keine Interviews gibt, aber sie probiert trotzdem Kontakt aufzunehmen, denn sie möchte eine Autobiografie über Estela schreiben, mietet sich gegenüber dem Haus der Schriftstellerin ein. Durch Zufall erfährt sie, dass es in diesem kleinen Ort noch eine berühmte Persönlichkeit gibt, die gerade im Gefängnis verstorben ist. Die sogenannte Liebesbriefmörderin, die aus Habsucht drei Männer tötete, die beinahe sogar Tony Cienfuegos ermordet hätte, den damals allerbesten Freund von Estela. Auch der verstorbene Tony war ein berühmter Schriftsteller, ein ruhmsüchtiger und schnöseliger Exzentriker. Warum haben die beiden Freunde nach Estelas Verhaftung nie wieder Kontakt gehabt? Unter dem Vorwand, etwas über die Liebesbriefmörderin schreiben zu wollen, erhält Maya Einlass in das Haus der Schwestern Valiente.


Die Geschichte eines Mädchens aus der Provinz nach dem spanischen Bürgerkrieg ließ niemanden unberührt. Es war die Saat, aus der die feministische Bewegung entstand, und ihre Anhängerinnen erhoben das Buchzum Fundament ihrer sozialen Revolution.

Auch Alonso Ríos plant eine Biografie - und er besitzt brisante Dokumente

Bei Estela Valiente meldet sich immer wieder ein bekannter Journalist, Alonso Ríos, bittet um Interviews – auch er will ihre Autobiografie schreiben. Die Schriftstellerin lässt ihn abblitzen. Er erinnert sie nun daran, dass er ein Dokument besäße, das Wirbel um ihre Person aufwirbeln könnte, wenn er darüber schriebe. Und wenn sie nicht mit ihm kooperiere, dann würde er es in der Biografie veröffentlichen, ohne, dass sie vorher dazu Stellung nehmen könne. Er würde einiges aus der Vergangenheit gern verstehen, bevor er mit dem Schreiben beginnt. Jahre hat er gewartet, ohne sie unter Druck zu setzen. Er wird es tun. Estela muss handeln. Und wenn nun jemand meint, der diese Rezension liest, er ahne, wie es in dem Roman weiterginge … Falsch! Das alles ist der Anfang zu einer spannenden Geschichte. Es passiert noch eine Menge.

Tatsächlich hat dieser Ríos mir anvertraut, dass er ein Buch über Sie schreiben will«, sagte Pereira. »Er hat mir versichert, dass es ein bahnbrechendes Werk sein wird, und behauptet, äußerst aufschlussreiche Informationen über Ihr Leben und Ihr Werk zu haben.

Mamen Sánchez zeigt der überwundenen Diktatur den femininen Stinkefinger

Warum hat Estela Valiente auf dem Höhepunkt ihres Ruhms nicht weitergeschrieben? Eine Frage, die es zu klären gilt. Ist es wahr, was Tony Cienfuegos in seiner Autobiografie behauptet hatte? Denkt hier nun jemand an Harper Lee und Truman Capote? Richtig, davon hat die Autorin sich inspirieren lassen – aber mit dem Original hat diese Story inhaltlich nichts gemeinsam. Sehr spannend, humorvoll, süffig geschrieben, ein wenig meta-literarisch, man kann nicht aufhören zu lesen. Mamen Sánchez schreibt eine elegante und achtsame Prosa, und kombiniert sie mit pfiffigen Dialogen. Im Original heißt der Titel: »La hora de las mujeres sin reloj », der mir passender erscheint. Es ist eine komplexe Geschichte, die alles impliziert, was man gern liest: Spannung, Intrigen, Freundschaft, Liebe, Frauen, die sich etwas trauten zu ihrer Zeit, für die Gleichstellung einstehen (wie hier wegen Verstoß gegen die guten Sitten ins Gefängnis gingen) und ein Hoch auf die Literatur. Genauso facettenreich wie die gesamte Geschichte, sind auch die Figuren, Charaktere, die sich nach und nach aufblättern. Der Roman schwingt in den lebensfreudigen Charakteren und zeigt der überwundenen Diktatur den femininen Stinkefinger. Meine Empfehlung für diesen Roman!

Mamen Sánchez studierte in Madrid Kommunikationswissenschaften, dann Literaturwissenschaften an der Sorbonne und an den Universitäten von London und Oxford. Heute ist sie die stellvertretende Chefredakteurin der spanischen Zeitschrift Hola! und Chefredakteurin der mexikanischen Ausgabe. Sie ist verheiratet und hat fünf Kinder. Mit dem Roman »Die schönste Art sein Herz zu verlieren« erzielte die Journalistin und Autorin in Spanien und international einen großen Erfolg.


Mamen Sánchez 
Estela und die Liebe zu den Wörtern
La hora de las mujeres sin reloj
Aus dem Spanischen übersetzt von Anja Rüdiger
Hardcover, Thiele Verlag, 368 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner