Direkt zum Hauptbereich

Eine wahre Freundin von William Boyle - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Eine wahre Freundin 


von William Boyle

Der Anfang: 

Nach der Sonntagsmesse und dem üblichen Kaffee bei McDonald’s mit ihrer Freundin Jeanne ist Rena Ruggiero zurück in der Bay Thirty-Fifth Street. Es ist seltsam, sich nur in der Straße heimisch zu fühlen, in der man wohnt, während alle anderen Straßen, selbst die in unmittelbarer Nähe, einem fremd vorkommen.


Rena Ruggiero, 60 Jahre alt, ist Witwe. Ihr Ehemann Vic war ein Brooklyner Mafia-Gangster-Größe, der sozusagen in Berufsausübung direkt vor der Haustür erschossen wurde. Ein liebevoller Ehemann und Vater – ein berüchtigter Schläger und Geldeintreiber, etwas wovor Rena immer die Augen verschlossen hatte, denn Vic redete zu Hause nie über die Arbeit. Das Familieneinkommen war gesichert, auf der Straße wurde er respektiert, wozu also nachfragen. Als Renas 80-jähriger Nachbar Enzio wieder mal einen Annäherungsversuch unternimmt, lässt sie sich dummerweise zu einem Glas Wein bei ihm zu Hause überreden. Doch er wird übergriffig, trotz mehrfacher Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen; sie gehen zu lassen. Viagra eingeschmissen, Porno angestellt, Rena auf dem Weg zur Tür, grabscht er sie an und sie schlägt ihm im Affekt den Kopf mit einem Glasaschenbecher ein, und weil sie meint, er sei tot, flüchtet sie in Enzios wertvollem 62er Impala. Wo soll sie hin? Zwar hat sie sich mit ihrer Tochter Adrienne zerstritten, aber sie und ihre 15-jährige Enkelin Lucia sind das Einzige, was Rena noch hat. 


Road Movie mit Oldtimern

Einen Moment ist der Raum von vibrierender Stille erfüllt. Bobby hält die Waffe auf Ritchie gerichtet, sieht aber zu Wolfstein. Wolfstein sieht zu Rena und Lucia. Ritchie sieht zu Bobby. Adrienne sieht aus wie jemand, der hofft, dass etwas endlich aufhört, und zutiefst enttäuscht ist, dass es das nicht tut. Lucia ist aufgeregt und verwirrt, als würde sie Shakespeare live sehen. Rena weiß nicht genau wohin mit ihren Augen.


Adrienne schlägt ihr jedoch die Tür vor der Nase zu. Lacey Wolfstein von gegenüber, sieht die verstörte Rena, bittet sie, erstmal bei ihr zu verschnaufen, will sie in dem Zustand nicht fahren lassen. Wolfstein, ein ehemaliger Pornostar, hatte zuletzt reiche alte Männer abgezockt, bevor sie sich in der Bronx zur Ruhe setzte. Adrienne ist mit Richie Schiavano leiert, Mitglied einer Mafiafamilie, und er ist gerade dabei, Mafiageld zu klauen, um mit Frau und Kind das Weite zu suchen. Doch Tochter Lucia hat keine Lust abzuhauen, klingelt bei Wolfstein, um Oma Rena um Hilfe zu bitten. Innerhalb kurzer Zeit trudeln alle Handelnden bei Wolfstein ein: Bobby, der Wolfstein heiraten will, auch wenn sie ihn abgezockt hat, Adrienne und Richie, die Lucia aus dem Haus holen müssen, Enzio, lediglich am Kopf verletzt, der seinen 62er Impala wiederhaben will und Mafiaboss Crea, der psychopathische Hammerschläger, auf der Jagd nach seinem Geld. Die Katastrophe ist nicht aufzuhalten ... Und nun folgt ein wildes Roadmovie, ein Auto auf der Flucht, zwei in Verfolgung ... 1982er Cadillac Eldorado gegen 62er Impala.


Jeder weiß über Vic Bescheid, was er gemacht hat und wie er gestorben ist, aber niemand spricht sie darauf an. Niemand fragt sie, wie es ist, den eigenen Ehemann verbluten zu sehen. Oder wie es ist, mit dem Gartenschlauch getrocknetes Blut von den Stufen zu spritzen, nachdem man gerade den einzigen Mann beerdigt hat, den man je geliebt hat.

 

Witzig, skurril, spannend 

William Boyle hat diesen Noir-Thriller mehrfachperspektiv gestaltet, die Ereignisse immer aus der Sicht der handelnden Personen. Aber es ist mehr. Er geht hinein in die Charaktere, gibt Rückblicke auf deren Lebensgeschichte. Wenn man nun meint, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Gangster, so wäre dies zu einfach. All diese Männer wollen ihre Probleme mit Gewalt lösen, alle sind übergriffig gegen über Frauen, nehmen sie nicht ernst. Wertvolle Oldtimer haben mehr Bedeutung als Frauen. Doch diese Frauen lassen sich das nicht bieten, halten zusammen und wehren sich, überlisten die Männer. Die Kerle halten nur kurz zum Zweck zusammen, bekämpfen sich gegenseitig. Interessant sind die betagten Typen, die sich mit Viagra Vitalität und mit Geld jüngere Frauen – Liebe – erkaufen zu meinen. Fein beschrieben wird die Rolle der Frauen im Gangstermilieu: funktionieren, Mund halten, wegschauen, die brave Familie zelebrieren, die Wahrheit ausschalten, die kontraproduktiv zur heilen Familienwelt wäre – letztlich mitzumachen um des Profits willen. Das schlechte Gewissen hinkt immer mit. Die Frauen in dieser Geschichte sind sich bewusst, dass sie nur eine Chance auf Freiheit haben, wenn sie sich zusammenschließen und sich gegenseitig vertrauen, bedingungslos. Hilfe anbieten, ohne nachzufragen – sie alle haben Erfahrung mit den Männern; genau das schweißt sie zusammen – später kommt eine weitere wichtige Frauenfigur dazu, eine Freundin von Wolfstein. Teils humorvoll, teils makaber, Slappstickszenen und dann wieder hinein in die Charaktere, eine gute Mischung für diesen Noir-Thriller mit witzigen Dialogen und aberwitzigen Einlagen, wie z. B.: Im Supermarkt von Renas Viertel hängt neben der Fischtheke ein Foto von Ehemann Vic, das ihn zusammen mit Martin Scorsese, Robert De Niro abbildet. Das sind die kleinen Einlagen, die eingeschobene Lacher erzeugen. Witzig, skurril, spannend – gute Unterhaltung.


William Boyle ist in der Nachbarschaft von Gravesend in Brooklyn aufgewachsen. Er lebt zurzeit in Oxford.


William Boyle 
Eine wahre Freundin
Originaltitel: A Friend Is a Gift You Give Yourself
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf
Mit einem Nachwort von Sonja Hartl
Kriminalroman, Thriller, Noir, Mafia
Hardcover, 368 Seiten
Polar Verlag, 2020




Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Der Schriftsteller und die Katze von Nabiha Mheidly und Walid Taher

  Ein Buch über das Schreiben, die Entwicklung einer Geschichte, von Figuren. und der Beziehung des Schriftstellers zu seinen Charakteren. Am Anfang sucht man eine Idee, überlegt, verwirft und endlich passt eine … Ein Bilderbuch, eine gute Geschichte, ein Kindersachbuch über das Schreiben – aber nicht nur für Kinder! Weiter zur Rezension:    Der Schriftsteller und die Katze von Nabiha Mheidly und Walid Taher

Abbruch – In Schönheit sterben von Stefan Ulrich

Der erste Sat: Die Männer schwitzten unter ihren Motorradhelmen. Dies ist keine Rezension, sondern ein Abbruchbericht. Nach drei Seiten war ich eigentlich so weit, gebe aber einem Buch grundsätzlich 50 Seiten, manchmal verzeiht man die ersten Seiten, wenn sich Sprache und Geschichte zum Besseren wenden. Der erste Satz, nun ja, danach soll man nicht urteilen … Der »Tiber fließt Richtung Meer«. Ach nee, hätte ich nicht gedacht. Sprachlich haben mich die ersten Seiten so gar nicht begeistern können, aber vielleicht macht es die Story wett. Gianluca starrte auf ihre gewölbten Hüften. ›Che razza di culo!‹, entfuhr es ihm. ›Was für ein Wahnsinnsarsch!‹  Starrt auf die Hüften, benennt aber den A… und sagt das auch noch zweisprachig? Diese Frau ist die Tochter eines Gastwirts, der angeblich Geld mit der Tochter macht. Die Leute kommen zum Essen, um diesen Hintern zu sehen. Nicht wegen der guten Küche?  Die gewölbte Stirn, die geröteten Wangen, die schmalen, hochgeschwung

Rezension - Medusa und Perseus von André Breinbauer

  Der Mythos Medusa neu erzählt als Graphic Novel. War Medusa ein Monster? War Perseus ein Held? Der Wende-Comic erzählt die bekannte Überlieferung aus der Perspektive beider Figuren ein wenig anders: Medusa ist nicht das Ungeheuer, das aus Bosheit Menschen zu Stein verwandelt. Von einem Gott missbraucht und einer Göttin dafür bestraft ist sie ein zweifaches Opfer der Götter. Perseus hingegen ist noch ein Kind und wird zum Spielball der Mächtigen. Mit eindrücklichen Bildern erkläret der Comic, der von zwei Seiten zu lesen ist, die griechische Mythologie. In der Mitte treffen die beiden zusammen; das unvermeidbare Ende für Medusa. Allage-Comic ab 14 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Medusa und Perseus von André Breinbauer

Rezension - Der große Sommer von Ewald Arenz

  Gesprochen von Torben Kessler Ungekürztes Hörbuch Spieldauer: 7 Std. und 35 Min. Ein fluffiger Stoff mit Sommerfeeling – in tristen Wintertagen ein Hörspaß. Dieser nostalgische Coming-of-Age-Roman spielt im Sommer 1981. Der 17-jährige Frieder bekommt seine Strafe: Versetzung gefährdet – außer er besteht die Nachprüfung. Klotzen in den Sommerferien ist angesagt. Während die Familie in den Urlaub fährt, wird Frieder bei den Großeltern einquartiert. Latein und Mathe lernen mit dem mürrischen, strengen Großvater. Der erste Sprung vom Siebeneinhalber, die erste Liebe, Familiengeheimnisse, ein Trauerfall, eine Katastrophe ...  Weiter zur Rezension:    Der große Sommer von Ewald Arenz

Rezension - Origins - Indigene Kulturen der Welt von Nat Cardozo

  Für viele Menschen ist unsere Art zu leben die einzige, die sie kennen, bzw. für richtig halten. Die Europäer haben vor ein paar hundert Jahren einen Großteil der Welt erobert und mit dem Schwert ihre Kultur und ihren Glauben durchgesetzt, aus verschiedenen Gründen viele alte Kulturen ausgelöscht. Doch einige sind übriggeblieben, Menschen, die im Einklang mit Natur und Umwelt leben. Dieses Sachkinderbuch ab 8 Jahren vermittelt einen Einblick in traditionelle Kulturen und natürliche Lebensarten. Ein atmosphärisches Kinderbuch, spannend und informativ zum Thema Kulturvielfalt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Origins - Indigene Kulturen der Welt von Nat Cardozo

Rezension - Das verschwundene Meer von Carlos Franz

  Zwanzig Jahre, nachdem sie als Richterin abgesetzt wurde und aus ihrem Heimatland Chile nach Berlin floh, kehrt Laura Larco in die Kleinstadt Pampa Hundida zurück, eine in den Weiten der Atacama-Wüste verlorene Oase. Lauras Tochter hatte ihr unangenehme Fragen zu ihrer Stellung während der Pinochet-Diktatur gestellt und war ins Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, um ebenfalls Jura zu studieren. Gleichzeitig kehrt auch Major Cáceres dorthin zurück, der damals, nach dem Militärputsch gegen den Präsidenten Salvador Allende, als Kommandant eines Lagers für politische Gefangene am Stadtrand agierte. Laura nimmt den Posten als Richterin wieder auf, um den Major vor Gericht zu stellen. Wie funktioniert Diktatur und was macht sie aus dir? Ein guter Roman aus Chile, ein wichtiges Werk der lateinamerikanischen Literatur. Empfehlung. Weiter zur Rezension:    Das verschwundene Meer von Carlos Franz

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Die besten Weltuntergänge von Andrea Paluch und Annabelle von Sperber

  Was wird aus uns? Zwölf aufregende Zukunftsbilder Eigentlich ist der Titel falsch, denn dieses Bilderbuch ab 8 Jahren entwirft zwar zwölf Szenarien für unsere Zukunft, doch die Welt wird nicht untergehen. Aber vielleicht der Mensch. Manche dieser Bilder sind bedrückend, andere sind beglückend. Wird eine große Dürre kommen, werden unsere Städte einmal frei von Autos sein oder müssen wir uns auf Raumschiffe retten? Alle diese Vorstellungen öffnen unsere Fantasie für die Frage: Wie wollen wir leben? Die meisten Szenarien sind freundlich, bzw. sie zeigen auf, dass der Mensch Lösungen finden kann. Ein klasse Kinderbuch, um über unsere Zukunft zu diskutieren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Die besten Weltuntergänge von Andrea Paluch und Annabelle von Sperber

Rezension - Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Ein Schweizer Kultbuch von 2001, neuaufgelegt, ein Comming of age – Roman, schräg, amüsant, empathisch, spleenig. Franz ist einer, der weiß, dass er irgendwie die Schule überstehen muss, mit Abschluss, aber wozu das alles gut sein soll, hat er noch lange nicht kapiert. Schule ist irgendwie ein Stück Heimat, wenn nur der Unterricht nicht wäre. Ein typisches Jugendbuch, allerdings in einer Form, das auch Erwachsenen gefällt. Hier geht es zur Rezension:    Franz – oder warum Antilopen nebeneinander laufen von Christoph Simon

Rezension - CRAFTBOOK – Hexe Hilaria von Gabriele André, Wolfgang André und Anton Hackner

  Das Craftbook Band 22 Das Craftbook «Hexe Hilaria» ist eine Mischung aus Malbuch und Spaßaufgaben. Hier gibt es lustige Elemente zum Ausmalen und laut Klappentext ist auch das Fotokopieren für mehrmaligen Gebrauch erlaubt. Ausmalen, nach Zahlen malen, Doppler finden, zählen, Irrgarten, Puzzle ausschneiden und zusammensetzen, ein witziges Beschäftigungsbuch ab 5 Jahren. Weiter zur Rezension:    CRAFTBOOK – Hexe Hilaria von Gabriele André, Wolfgang André und Anton Hackner