Direkt zum Hauptbereich

Dry von Neal & Jarrod Shusterman - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Dry 


von Neal & Jarrod Shusterman


Der erste Satz: Der Wasserhahn in der Küche gibt sehr bizarre Geräusche von sich. Er keucht und hustet, als hätte er einen Asthmaanfall. Er gurgelt wie ein Ertrinkender, spuckt einmal und verstummt dann ganz.

Ein ziemlich starkes amerikanisches Jugendbuch zu einem apokalyptischen Szenarium, das theoretisch jeden Tag in Kalifornien eintreten könnte. Es geht um Wassermangel. An einem Tag im Sommer fließt an der Westküste von Kalifornien kein Wasser mehr aus dem Hahn. Aus den Medien kann man vernehmen, der obere Teil des Landes braucht sein Wasser selbst auf Grund der langanhaltenden Trockenheit, hat den Zulauf gesperrt, weiter unten an der Küste kommt nichts mehr an. Die Regierung, die das »Tap Out« nennt, wird sich schon irgendetwas einfallen lassen, denken sich Alyssas Eltern, machen sich keine Sorgen. Die Familie fährt trotzdem zum Supermarkt, will Wasser besorgen, und schon geht der Ärger los. Der Parkplatz ist überfüllt, Hamsterkauf hat eingesetzt. Das Wasser ist aus, sogar die Softgetränke, doch Alyssa hat die Idee, wenigstens die dicken Beutel mit Eiswürfeln mitzunehmen. Das Wasser lässt auf sich warten, die Menschen werden unruhig. Angeblich soll nun am Strand die alte Entsalzungsanlage wieder laufen, dort Wasser verteilt werden, die Eltern setzen sich ins Auto, fahren hin.

Man teilt nichts oder man teilt alles. Einen Mittelweg gibt es nicht.

Nicht ein Milligramm wird abgegeben

Nebenan wohnt eine Prepperfamilie, die in der Siedlung belächelt wird. Sie sind auf dieses Szenario vorbereitet, haben Wasser, Lebensmittel und Waffen gebunkert, das Haus besitzt eine eigene Stromversorgung, einen Panikroom. Nicht ein Milligramm wird abgegeben, predigt der Vater. Denn wenn die hungrige Meute erstmal mitbekommt, dass du etwas besitzt, dann stürmen sie deine Hütte! Kelton, der Sohn, ist schon lange in Alyssa verliebt. Er sieht seine Chance, bei ihr zu landen, wenn er ihr Hilfe bieten kann. Als Alyssas Eltern nicht vom Strand zurückkehren, fahren die Kinder mit dem Fahrrad los, um sie zu suchen. Etwas Schreckliches muss sich dort unten am Strand zugetragen haben …

Ein Handgemenge folgte dem nächsten, und dann kam es mir vor, als hätte man plötzlich und gleichzeitig die Gehirne aller Menschen abgeschaltet. Es ist ein Phänomen, das in großen Menschenmengen auftritt. Man nennt es ›Deindividuation‹. Es passiert, wenn ein Polizist eine Uniform anzieht oder man sich eine Sonnenbrille aufsetzt, damit die Leute einem nicht in die Augen blicken können. Es ist, als würde man sich aus seinem normalen Ich davonstehlen – man fühlt sich anders, verhält sich anders.

Der soziale Mensch wird zum Tier

Die drei Kinder müssen irgendwann alleine klarkommen, die Jugendliche Jacqui stößt dazu und später noch ein weiterer Junge. Das Buch zeigt deutlich die Abläufe einer solchen Katastrophe: Der soziale Mensch wird zum Tier, der Selbsterhaltungstrieb setzt ein, und die Behörden haben nichts mehr im Griff, das Militär greift hart durch. Und selbst wenn man bis ins Letzte gewappnet ist, kann vieles schiefgehen, auch bei den Preppern klappt nichts nach Plan. Der Mensch ist nicht einkalkulierbar. Keltons Familie hat für den Notfall ein verstecktes Camp in den Bergen vorbereitet, das die Jugendlichen mit einem Auto erreichen wollen, doch das Militär hat alle Straßen gesperrt, leitet die Flüchtenden in Auffanglager, die allerdings auch kein Wasser haben. Wie sollen sie zum Camp gelangen? Die Welt ist gefährlich geworden, Menschen sind bereit, für einen Schluck Wasser zu töten.

Das Geheimnis der erfolgreichen Zusammenarbeit in einer Gruppe ist ein dynamischer, ansprechbarer Anführer. Und der Schlüssel, ein guter Anführer zu sein, ist genaue Beobachtung und subtile Manipulation – so subtil, dass niemand merkt, dass er manipuliert wird. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das auch der Schlüssel für eine erfolgreiche Regierung.

Menschliches Verhalten im Ausnahmezustand 

Spannend und eindrucksvoll beschreiben Neal und Jarrod Shusterman, wie die Welt aus den Fugen gerät. Menschliches Verhalten folgt den Urinstinkten und alles ist möglich. Das Autorenteam schreibt aus den verschiedenen Ich-Perspektiven der Protagonisten, was den extrem verschiedenen Charakteren Tiefe gibt. »Dry« ist ein Jugendbuch und befasst sich lediglich mit einer Situation, mit der die Protagonisten klarkommen müssen, also nicht mit politischen und gesellschaftlichen Hintergründen, was natürlich Stoff genug ist. Aber dennoch zeigt der Roman, wie wichtig die Wasserversorgung für die Menschen ist und regt dazu an, mit unseren Ressourcen achtsam umzugehen. Die Figurenzeichnung hat mir besonders gut gefallen, klasse Typen, sehr gute Schilderung des Verhaltens von Massen, Verhalten von Einzelnen im Ausnahmezustand – Neal Shusterman hat Psychologie studiert … Der Plot ist klar definiert an der Heldenreise, amerikanisch, am Ende ein bisschen dick aufgetragen, eben einkalkulierbar.
Der Roman zeigt, dass man für einen Notfall planen muss – nicht unbedingt wie ein Prepper – doch auf einen Blackout, einen Strom- und Wasserausfall sollte man in der heutigen Zeit mit kleinen Vorräten an Wasser und anderen Dingen vorbereitet sein. Was bedeutet es, wenn das Wasser ausfällt? Was passiert in wenigen Stunden mit der Toilette, wenn man sie weiter benutzt? Was gibt es für Möglichkeiten, um an Wasser heranzukommen, und was passiert mit dem Körper, wenn er dehydriert? Teilt man mit Haustieren? Sehr spannend ist es sicher für Jugendliche, sich über menschliches Verhalten im Ausnahmezustand auseinanderzusetzen. Hier gibt der Roman spannenden Stoff, darüber zu diskutieren. Ich hadere damit, den Roman als Allage auszuweisen. Dazu ist er mir nicht tiefgründig genug, auch nicht in der Sprache. Erwachsene, die gerne Jugendbücher lesen, werden ihre Freude an dem Stoff haben. Aber wer etwas zum Thema lesen möchte – es gibt tiefergehende Romane, die diesen Stoff bearbeiten. Meine Empfehlung: 12-16 Jahre. Diese Altersgruppe wird begeistert sein. Heldenstory ja ... aber trotz allem wäre das Buch eine gute Schullektüre, da es Katastrophe und menschliches Handeln im Einklang gut beschreibt, zum achtsamen Umgang mit den Ressourcen der Erde aufruft. Am Ende ist alles gut, das Wasser fließt, aber dazwischen liegt die Hölle des menschlichen Abgrunds. Es gab ein paar Tage kein Wasser mehr in einer kleinen Region, und schon bricht die Welt zusammen.

Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, USA, ist in den USA ein Superstar unter den Jugendbuchautoren. Er studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award. Er hat den Roman zusammen mit seinem Sohn Jarrod geschrieben.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Drainting: Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger

  Als Drainting bezeichnet Felix Scheinberger die intuitive Kombination von Malen und Zeichnen. Damit hebt er die jahrhundertealte heute vollkommen unnötige Trennung zwischen Flächen malen und Linien zeichnen auf und verbindet das Beste aus beiden Welten. Früher machten wir einen Unterschied zwischen Zeichnen und Malen und damit fingen die Schwierigkeiten an. Wo es nämlich gar keine Umrisslinien gibt, gilt es, diese abstrakt zu (er)finden. Die intuitive Kombination aus Zeichnen (Drawing) und Malen (Painting) garantiert gute Ergebnisse und unendlichen Spaß! Eine gute Einführung erklärt das Knowhow und Grundsätzliches zum Malen und Zeichnen – gute Ideen, die man selbst umsetzen kann. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

  Gesprochen von Hans Jürgen Stockerl Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 7 Min. Wir schreiben das Jahr 1683. Der junge Engländer Obediah Chalon, Spekulant, Händler und Filou, hat sich in London gerade mit der Investition von Nelken verspekuliert und eine Menge Leute um ihr Geld gebracht, das mit gefälschten Wechseln. Conrad de Grebber, Direktoriumsmitglied der Vereinigten Ostindischen Compagnie bietet Obediah  die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen: Er wird auf eine geheime Reise geschickt, um etwas zu stehlen: Kaffeepflanzen. Spannender Abenteuerroman rund um den Kaffee. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis

  (Detektivbüro LasseMaja, Bd. 37)  Es gibt hochfliegende Pläne im Ort Valleby: Ein Astronaut macht mit seiner Raumkapsel in der Kleinstadt Station und will als Nächstes den Planeten Neptun ansteuern. Und laut tönt er, er suche Astronaut:innen, die ihn begleiten. Bewerber will er einem Astronauten-Test unterziehen, danach bestimmt er, wer mitfliegen darf! Natürlich benötigt er auch Spenden für sein Projekt. Die Detektiv:innen Lasse und Maja hören genau zu. Und bei dem, was der Mann so erzählt, kommt schnell der Verdacht, dass an der Geschichte etwas faul ist und der Typ ein Betrüger ist. Das teilen sie dem Dorfpolizisten mit – doch der hat gerade keine Zeit für sie. Ein Dieb geht um … Spannender, witziger Kinderkrimi ab 8 Jahren, Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis 

Rezension - Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt

Bendix, der Häuptling des Keltendorfs Taigh, ist außer sich: Jemand hat seinen Honigtopf gestohlen! Lindis, der Ziehsohn der Dorfdruidin Kundra und dessen Freunde Finn und Veda wollen der Sache auf den Grund gehen. War der Dieb hinter der wertvollen Amphore her oder hinter deren speziellem Inhalt? War es einer der fahrenden Händler? Und dann ist auch noch die kleine Tochter der Sklavin verschwunden! Unter dem Vorwand, fischen gehen zu wollen, machen sich die drei Jugendlichen heimlich auf die Suche nach den Händlern und kommen dabei einem Geheimnis auf die Spur … Weiter zur Rezension:    Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt 

Rezension - Osso – Geschichte einer Freundschaft von Michele Serra und Alessandro Sanna

  Ein alter Mann lebt in einem Haus am Waldrand, mit Blick auf die Stadt. Eines Tages kommt ein hungriger Hund zum Haus, der sich nicht herantraut. Der Mann stellt Futter hin und geht zurück ins Haus. Jeden Tag kommt der Hund am Morgen und am Abend, und weil er so knochendürr ist, nennt der Mann ihn Osso, schließt den Streuner ins Herz. Eine wunderschön erzählt und illustrierte Geschichte über die Beziehung Mensch und Hund. Allage, ab 10 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Osso – Geschichte einer Freundschaft von Michele Serra und Alessandro Sanna