Direkt zum Hauptbereich

Die verschwindende Hälfte von Brit Bennett - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Die verschwindende Hälfte 


von Brit Bennett

Gesprochen von: Tessa Mittelstaedt
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 4 Min.


Der erste Satz: 

An dem Vormittag, als einer der verlorenen Zwillinge nach Mallard zurückkehrte, kam Lou Lebon mit der Nachricht ins Diner gelaufen, und selbst heute noch, viele Jahre später, können sich alle an den Schock erinnern, als der schweißnasse Lou sich durch die Glastüren drängte, schwer atmend, um den Hals herum dunkel angelaufen vor lauter Anstrengung.


In Louisiana ist der kleine (fiktive) Ort Mallard entstanden. Alle Bewohner sind negroid, aber man achtet auf sich, jede Generation wird hellhäutiger – ein ungeschriebenes Gesetz. Schwarze haben hier nichts zu suchen. In den 1950ern werden hier die Zwillinge Stella und Desiree geboren, die so weiß sind, dass sie selbst bei den Weißen als Weiß durchgehen. Ihre alleinerziehende Mutter verdient sich ihren Lebensunterhalt durch Putzen. Die beiden Mädchen sehen ihre Zukunft nicht in der Kleinstadt, sie wollen aufs Collage und später studieren, doch  die Mutter macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Sie meldet sie von der Schule ab und hat bereits Arbeitsverträge für sie abgeschlossen. Das Maß ist voll für die beiden – sie hauen einfach ab nach New Orleans.


Den eigenen Weg gehen

Die Vignes Zwillinge hatten sich ohne ein Wort davon gemacht und so wurde ihr Abgang, wie jedes plötzliche Verschwinden, mit Bedeutung aufgeladen. Bevor sie in New Orleans wieder auftauchten, bevor sie einfach als lebenshungrige Mädchen galten, war eine Tragödie das Einzige was Sinn ergab. Die Zwillinge hatten immer gesegnet und verflucht gewirkt, beides.


Zunächst wohnen sie zusammen, suchen sich Jobs. Die selbstbewusste Stella merkt schnell, wie weiß sie wirkt, als ihr die farbigen Boys untertänig die Türen öffnen, und sie nimmt eine Stelle in einem Büro an, die eine farbige Frau nie bekommen würde. Doch eines Tages stellt Desiree fest, ihre Schwester ist verschwunden. Stella hat die Tür zu ihrem alten Leben hinter sich zugeschlagen, heiratet einen wohlhabenden weißen Mann, bekommt ein weißes Kind. Desiree sucht nach ihr, aber die Schwester ist unauffindbar. Und eines Tages taucht Desiree wieder in Mallard auf – mit einem pechschwarzen Kind – denn sie hat sich den dunkelhäutigsten Mann ausgesucht, den sie finden konnte. Und nun flieht sie vor seinen Gewaltausbrüchen, kommt bei der Mutter unter. In Mallard bekommen die Einwohner Schnappatmung, wenn sie das Kind sehen. Die kleine Jude ist hier dem Mobbing der anderen Kinder ausgesetzt. Desiree hatte nie aufgehört, nach ihrer Schwester zu suchen. Aber es müssen Jahrzehnte vergehen, bis sich zufällig das Leben der beiden Schwestern wieder kreuzt. Der Lebensgefährte von Desiree ist ein Transmann. Auch er hat seine Familie verlassen, die mit seiner Andersartigkeit nicht klarkommt. Der Plot ist in die 50-er und 80-er Jahre gelegt – eine Gesellschaft, in der es Rassengesetze teils noch gab, sie mehr oder weniger weiter praktiziert wurden. Die Jim-Crow-Gesetze der Rassentrennung wurden 1948 zwar teils aufgehoben, aber erst 1964 in allen Bereichen. In den Köpfen der Menschen geisterte die Trennung aber noch lange weiter – bis heute.


Identitätsfindung gleich Identitätsverleugnung

Aber sie kamen nicht zurück. Stattdessen zerstreuten die Zwillinge sich nach einem Jahr und lebten ihr Leben so säuberlich getrennt, wie sie einst das Ei geteilt hatten. Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte.


Erzählerisch stark breiten sich hier zwei Lebensläufe aus, eigentlich vier, denn die Töchter der Zwillinge werden ein Bindeglied. Rassismus auf allen Ebenen und Identitätsverleugnung: Schwärzer geht immer, aber weißer als weiß ist nicht zu überbieten. Stella lebt eine Lüge, verleugnet ihre Identität. Und als eine schwarze Familie in ihr weißes Viertel zieht, endet das mit einem Desaster – sie hört ihre Tochter sagen, dass sie nicht mit Ni... spiele, holt selbst die rassistische Keule heraus, um ihr Weißsein zu fundamentieren. Auktorial wechselt Brit Bennett zwischen den Perspektiven der verschiedenen Charaktere und blättert sie auf: Desiree und ihre Tochter Jude, Stella und ihre Tochter Kennedy. Fein erzählt mit tiefer Charakterstudie erinnert das Buch an den Stoff von Toni Morrison und James Baldwin. Wie weiß oder wie schwarz hat einer zu sein?, eine Thematik die Toni Morrison immer umtrieb. Brit Bennett schafft es, sich auf keine Seite zu stellen, ihre Figuren sprechen zu lassen. Ein feiner Roman zum Thema Rassismus.


Brit Bennett 
Die verschwindende Hälfte
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Isabel Bogdan und Robin Detje
Gesprochen von: Tessa Mittelstaedt
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 4 Min.
Roman, amerikanische Literatur, Rassismus
Argon Verlag, Audible, 2020
Rowohlt Verlag, 2020, gebunden, 416 Seiten


Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans 

Rezension - Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein

  Eine junge Frau aus einer Anwaltskanzlei aus der Stadt und zieht auf die Bitte von ihrem Bruder, der von Frau und Kindern verlassen wurde, zu ihm in ein Land im hohen Norden; sie kann von dort ihren Job weiter erledigen. In dem abgelegenen Dorf in einem nördlichen Land lebten bereits die jüdischen Vorfahren der Familie; es ist ihnen dort nicht gut ergangen. Als jüngstes von zahlreichen Geschwistern scheint es der jungen Frau nichts auszumachen, sich als Haushälterin des Bruders aufzuopfern. Eine komplexe Geschichte, Sarah Bernstein ist eine feine Beobachterin, alles ist offen; ist diese Erzählerin zuverlässig? Das Gehirn des Lesenden ist in Arbeit, viel Interpretation ist an vielen Stellen offen. Klasse! Weiter zur Rezension:    Übung in Gehorsam von Sarah Bernstein