Rezension
von Sabine Ibing
Die Taucherin
von Verena Boos
Euphorisch und erschöpft gab sie sich, immer wieder neu, der Bannkraft dieser Szenerie hin: das dunkle Band der nahfernen Berge und der flammende Himmel. Sie ließ mit dem Licht auch das Empfinden für diese Landschaft einströmen. Das Glottertal war bergend wie die Schalen zweier Hände. Die Nordseite steil aufragend, mit Weinbergen und dichten Wäldern, die Südseite offener, mit einem weniger klar gezeichneten Kammverlauf. Sie kletterte gern allein, wie sie auch gern allein durch diese Wälder streifte und manchmal in deren Schutz übernachtete. Sie kannte die Wege alle. Im Dunkeln, bei Nebel oder Schnee fand sie sich instinktiv zurecht. Mehr eine Erinnerung des Körpers als ein Wissen des Verstands. Die Landschaft konnte nichts dafür, dass sie sich gefangen und ausgestoßen zugleich fühlte.
Seit Kindertagen verbindet Amalia Faller eine enge Freundschaft mit Marina in Valencia. Amalias Wunsch, nach Valencia zurückzukehren, hatte sich gerade zerschlagen, für den Job, der fest schien, hat sie eine Absage erhalten. Als Amalia in den Vogesen klettert, erhält sie einen Anruf, erfährt, dass Marina von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. So fährt Amalia nach Valencia, um ihre Freundin zu suchen, die im Oceanogràfic arbeitet. Sie streift durch die Straßen, durch das alte Fischerviertel El Cabanyal, für das sich Marina engagierte, es zu erhalten, wo hingegen ihr Bruder Felipe sich dafür einsetzt, es abzureißen. Erinnerungen an Marina gehen Amalia durch den Kopf, und ihre eigene Zeit in Valencia, das erste Mal für ein ganzes Jahr, als ihr Vater hier einen Forschungsauftrag erhalten hatte. Damals hatte sie mit ihrem Vater im Priesterseminar gewohnt, sie verbrachten viel Zeit in Marinas Familie. Es gibt schöne Passagen, aber insgesamt habe ich viel geblättert, weil mich der Roman eher langweilte; es fehlte mir eine Strategie, ein Thema zu finden.
Über Themen, die die katholische Kirche betreffen, spricht man nicht laut
¿Wobei mauert denn die Kirche?›‹¿Wie meinst du das?›, fragte Vicent zurück. ‹¿Gibt es ein Thema, das die Kirche totschweigen will?› Er lachte laut, es klang wie ein Hicksen, und Amalia wusste selbst im Moment, da sie die Frage formulierte, wie naiv sie war.‹Die Kirche mauert. Punkt. Grundsätzlich. Die katholische Kirche ist eine obskure Organisation, die sich nicht in die Karten schauen lässt, und sie ist aufs Engste mit der politischen Sphäre verflochten. ‹Zitier mich aber nicht.› Er scannte aus den Augenwinkeln die Umgebung. ‹Sie ist verstrickt in den Franquismus. Sie ist der Franquismus.› ‹War›, warf Amalia ein. ‹Nein›, widersprach Vicent. ‹Ist. Immer noch. Macht, Menschenrechtsverbrechen. Sie ist mindestens Komplizin. All die Ermordeten, die Verschwundenen des Bürgerkriegs, die Tausenden Toten.›
Im letzten Viertel wird es doch noch interessant und spannend. Denn jetzt wird die Geschichte politisch und historisch. Marina hatte zu den «Bebés robados» recherchiert, zu den geraubten Kindern. Wie in vielen Diktaturen hatte man auch unter Franco Regimekritikern die Kinder weggenommen, möglichst gleich nach der Geburt, und sie an regimetreue Familien gegeben. Ihre Recherchen eröffnen Amalia einen neuen Blick auf die alte Freundin und lassen verdrängte Erinnerungen auftauchen. Etwa 300.000 Babys sollen ihren Müttern nach der Geburt gestohlen worden sein; bis weit in die 1990er Jahre wurde damit weitergemacht. Mithilfe mafiöser Strukturen hat die katholische Kirche Kinder verkauft. Die Suche Marinas legt ein Geheimnis frei, das nicht nur die beiden Frauen auf viel existenziellere Weise miteinander verbindet, als sie es je geahnt hätten, sondern auch ihre Familien und ihre Länder. Hier hätte ich mir ein wenig mehr Tiefe zum Thema gewünscht. Das wird leider ziemlich schnell abgehandelt. Genau das ist für mich das Problem von diesem Roman. Das Thema ist für mich zu spät gesetzt. Diese ganzen Erinnerungen und Gedanken empfand ich als langweilig – aber wer durchhält, wird doch noch mit einem interessanten Thema belohnt. Ich denke allerdings, bis hierhin hat die Autorin einige Leser verloren. Das Thema der «Bebés robados» ist sehr vielschichtig, hallt bis heute nach und ist nicht ernsthaft politisch aufgearbeitet worden. Über Themen, die die katholische Kirche betreffen, spricht man nicht laut. Schon gar nicht darüber, dass sie sich zum Handlanger Francos gemacht hat. Denn im Tiefen brodelt noch immer die Francozeit, die Zerrissenheit der Gesellschaft. Genau zu diesem Thema hatte die Geschichte Potential, das leider vergeben wurde, weil es nur angestoßen wurde. Zu einfach hat es sich die Autorin mit ihren beiden Protagonistinnen gemacht: Zwei Rebellinnen, kinderlos, die mit der Familie, insbesondere mit der Mutter und den Geschwistern nicht zurechtkommen, allgemein Beziehungsprobleme haben. Nur am Rande: ¿Wieso setzt man spanische Fragesatzzeichen ein (das umgedrehte Fragezeichen am Anfang vom Fragesatz, das Fragezeichen am Ende eines Fragesatzes), wenn es sich um einen deutschen Text handelt? Es gibt sehr starke atmosphärische Stellen und wirklich gute Textstellen, ohne Frage; aber in der Gesamtheit ist der Roman für mich lediglich Mittelmaß.
Verena Boos wurde 1977 in Rottweil geboren, wo sie heute wieder lebt. Längere Aufenthalte in Paris, Bologna, Glasgow, Florenz, Barcelona und London, schließlich Valencia, München und Frankfurt. Studium der Anglo-Amerikanischen Literatur, Soziologie und Kulturwissenschaften, Promotion in Zeit- und Kulturgeschichte. Mit »Blutorangen« legte sie 2015 eines der beeindruckendsten Debüts der • letzten Jahre vor, ausgezeichnet u.a. mit dem Mara-Cassens-Preis und dem Preis des Buddenbrookhauses. Für die Arbeit an ihrem zweiten Roman »Kirchberg« (2017) erhielt sie das Arbeitsstipendium des Landes Baden-Württemberg.
Die Taucherin
Roman, Bebés robados, Francodiktatur, Spanien, Valencia
Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten
Kanon Verlag, 2024
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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