Direkt zum Hauptbereich

Die rote Tapferkeitsmedaille von Stephen Crane - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Die rote Tapferkeitsmedaille 


von Stephen Crane


Der Anfang:  Nur zögerlich zog sich die Kälte aus dem Boden zurück. Durch die letzten Nachtschwaden sah man eine Armee, die auf den Hügeln ihr Quartier bezogen hatte. Als ich das Braun des Morgengrauens in ein frisches Grün zu verwandeln begann, wachten auch die Soldaten auf und machten sich umgehend daran die neuesten Gerüchte in sich aufzusaugen.


Der Roman ist eine Neuübersetzung, erschienen 1895, ein damaliger Bestseller, der auch verfilmt wurde. Neu an diesem Stoff war die Sichtweise auf den Krieg, der erstmals aus der einzelnen Perspektive eines einfachen Soldaten geschrieben wurde: seine Beobachtungen, Empfindungen, seine Ängste. Um welchen Krieg es sich handelt, kann man nachvollziehen, der amerikanische Bürgerkrieg, der Sezessionskrieg von 1861 bis 1865. Aber selbst das ist letztendlich egal, wie auch die genauen Eckdaten zu Ort und Zeit. Es geht um ein Einzelschicksal, ein Mensch als Teil des Getriebes, dem der Überblick über das große Ganze im Getümmel fehlt. Viele Autoren kopierten die Betrachtungsweise, bis hin zu Erich Maria Remarque in seinem Roman «Im Westen nichts Neues». Ernest Hemingway sagte über diesen Roman: «Eines der besten Bücher unserer Literatur».


Im Krachen der Granaten sieht alles anders aus

Blutige Füße und gottverdammt dürftige Rationen, das ist alles, was wir haben›, maulte der Schreihals. Der Schweiß vermehrte sich im gleichen Tempo wie die Beschwerden. Einige rissen sich auch die schweren Hemden vom Leib. Am Ende trugen die meisten nur noch das, was für einen Soldaten unverzichtbar war: die notdürftigsten Klamotten, Decken, Brotbeutel, Feldflasche, Waffen und Munition.


Henry Fleming geht noch zur Schule, als er sich freiwillig zu Krieg meldet. Nach einer kurzen Ausbildung geht es los. Der Gefreite Fleming befindet sich mit seinen Kameraden und einigen Veteranen wochenlang in einem Lager, Langweile kommt auf, es dürstet die Jungen nach der ersten Schlacht, in den Vorstellungen Schlachtenruhm, schmetternden Fanfaren, Kampfeslust in einer heroischen Vorstellung von Sieg und Ehre. Doch als er dann in die erste Kampfhandlung zieht, die ersten Schüsse fallen, die Luft mit Pulverdampf geschwängert ist, die ersten Soldaten neben ihm fallen, bekommt er es mit der Angst zu tun. Menschen laufen kreuz und quer, fliehen, überall liegen Tote; Getöse, Granaten krachen ein, Nebel und Dampf versperren die Sicht – es scheint, als sei sämtliche Ordnung aufgelöst – seine eigene Wahrnehmung ist gestört, und dann pinkelt er sich in die Hose. Und er rennt, stapft ziellos durch die Gegend, folgt anderen, die eigne Einheit ist längst nicht mehr in Sichtweite. Was wird man mit ihm tun, wenn man ihn erwischt, ihn, der Reißaus genommen hat – wird er als Deserteur bestraft werden? In dem ganzen Chaos bekommt er von einem Kameraden auch noch eins übergebraten, ein erfahrener Soldat greift den verwirrten Jungen auf, bringt ihn zu seiner Schar, wo er als Kriegsverletzter gefeiert wird. Im Inneren schämt er sich seiner Feigheit. Und beim nächsten Angriff packt ihn die Raserei, er wirft sich in den Kampf, als könnte ihm nichts und niemand etwas anhaben. 


Zwiesprache der Figur mit sich selbst

Es geht nicht um den Krieg, die Sache, sondern um die Zwiesprache der Figur mit sich selbst, um die Sicht des Einzelnen. Schlachtbeschreibung aus dieser Perspektive. Denn letztendlich sieht der Gefreite Fleming maximal 10 Meter weit. Er sieht keine Schlachtaufstellung, versteht auch den Sinn der Zurufe von Vorgesetzten nicht. Immer wieder hört er gebrüllte Befehle im Getümmel, erlebt die Welt um ihn herum nur als Chaos. Und in diesem Chaos hat er immer wieder kurz Zeit, die Natur zu beobachten, die ihn beruhigt. Für mich ist dies keinesfalls eine Anklageschrift gegen den Krieg. Es geht um naive Vorstellungen, die junge Menschen aus Heldengeschichten im Vorfeld beziehen, um den Kampf, der in der Realität so gar nicht heldenhaft ist. Kriegsgeschehen verändern den Menschen und lässt alle Ängste offenlegen, auch die verborgenen, lässt die Beteiligten die Nerven verlieren, insbesondere wenn man den Überblick verliert, die brutale Wahrheit und der Tod vor Augen steht. Diese Erlebnisse sind traumatisch, stumpfen ab, Moral tauscht mit Verdrängung den Platz, lässt dann alles zu. Ein interessantes Psychogramm.


Stephen Crane wurde 1871 in Newark geboren. Als Journalist und Kriegsberichterstatter erlebte er zwei Kriege in Griechenland und Kuba. Er schuf in seinem kurzen Leben ein enormes Werk: Lyrik, Erzählungen und Romane. 1889 siedelte Crane nach England über und freundete sich mit Joseph Conrad, H.G. Wells und Henry James an. Anfang Juni 1900 starb Stephen Crane mit nur 28 Jahren in Badenweiler an den Folgen einer Tuberkuloseerkrankung.


Buchtrailer: Die rote Tapferkeitsmedaille 


Stephen Crane 
Die rote Tapferkeitsmedaille
Originaltiel: The Red Badge of Courage, 1895
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Gockel
Mit einem Nachwort von Thomas Schneider
und einem Crane-Portrait von Rüdiger Barth
historischer Roman, Klassiker, Kriegsliteratur, amerikanischer Bürgerkrieg, Sezessionskrieg
Gebunden mit Lesebändchen, 320 Seiten
Pendragon Verlag, 2020



Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner