Rezension
von Sabine Ibing
Die Mutter von Nicolien
von J. J. Voskuil
‹Mutter hat wieder angerufen›, sagte er, ohne mit dem Tippen aufzuhören. ‹Sie wollte sich Eau de Cologne in die Augen träufeln.
‹Und was jetzt?›, fragte sie erschrocken.
‹Sie wird es nicht tun›, antwortete er, mit den Gedanken bei der Arbeit.
‹Kannst du denn nicht mal einen Moment mit dem Tippen aufhören?›, fragte sie gereizt. ‹Ich rede doch mit dir?›
Nicoliens Mutter vergisst, sie ist Voskuils Schwiegermutter. Kleine Vergesslichkeiten, ganz normal in dem Alter. Doch dann geht es über die üblichen Gedächtnislücken hinaus. Erst vertauscht sie die Tage, dann kann sie ihre Lieblingslieder nicht mehr mitsingen, zuletzt verirrt sie sich in der Wohnung. J. J. Voskuil hat protokollarisch knapp drei Jahrzehnte (1957 – 1985) die schleichenden Veränderungen von Nicoliens Mutter beschrieben. Der Roma ist bereits 1999 im Original erschienen.
‹Wo soll ich mich hinsetzen?›
‹Wo Sie immer sitzen.› Es irritierte ihn. Sie saß dort schon seit sieben Jahren, er fand, dass sie es allmählich wohl wissen könnte.
‹Dort?› Aus irgendeinem Grund wollte sie sich immer auf Nicoliens Platz setzen, oder tat sie so als ob, denn es war schwer, bei ihr die Grenze zwischen dem festzustellen, was sie tatsächlich nicht wusst, und dem, was sie nur nicht wusste, weil es nicht in ihrem Interesse lag.
Mit der Schwiegermutter auf dem Sofa einen Schnaps trinken – sie lieber Eierlikör – einen Spaziergang machen, im Café Törtchen essen; sonntägliche Besuche. Was am Anfang als witzige Episoden betrachtet werden kann entwickelt sich zum Dilemma, das nicht zur Belastung der gesamten Familie führt. Kleine Hinweise, die sich verdichten. Anfangs kommt sie mit Notizen klar, doch als sie nicht mehr die Wochentage zusammenbringt, bricht das Zettelsystem zusammen. Wiederkehrende Fragen – Antworten, die fünf Minuten später vergessen sind. Sich wiederholende Anrufe. Die alte Frau nimmt im Unterbewusstsein ihren Gedächtnisverlust wahr, was sie bedrückt.
Meine Tochter sagt, dass ich hier bin.
Orientierungslosigkeit, die Frage danach, wo bin ich hier eigentlich, in welcher Wohnung? Eine schleichende Demenz, szenisch geschrieben, in Dialogform. In der Familie führt die Vergesslichkeit der Mutter hin und wieder zu Ärger, zu Verwirrung, denn die Dame vergisst auch gern all das, zu dem sie keine Lust hat. Liebevoll kümmern sich die Kinder um sie, doch sie benötigt immer mehr Betreuung, was zur Inanspruchnahme der Kinder führt. Ein langer Weg bis zum Auflösen des eigenen Ichs. Eine normale Geschichte – die wahrscheinlich jeder in irgendeiner Form selbst im Umfeld erlebt hat. Eine berührende Chronik.
J. J. Voskuil, geboren 1926 in Den Haag und gestorben 2008 in Amsterdam, arbeitete als Volkskundler und Romanautor. Der siebenbändige Romanzyklus »Das Büro« wurde mit rund einer halben Million verkauften Exemplaren in den Niederlanden zu einem Sensationserfolg. Voskuil wurde mit dem Ferdinand Bordewijk Prijs und dem Libris Prize ausgezeichnet.
Die Mutter von Nicolien
Originaltitel: De moeder van Nicolien, 1999
Aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
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