Rezension
von Sabine Ibing
Die Gebärmutter
von Sheng Keyi
Acht Frauen aus vier Generationen einer Familie, die während des 20. und 21. Jahrhunderts in einem Dorf in der Provinz Hunan aufwachsen, stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Großmutter Qi ist in der Qing-Dynastie groß geworden, zu Zeiten, als man den höher gestellten Mädchen noch die Füße abgebunden hat. Sie kann sich deshalb nur trippelnd fortbewegen, keine weiten Strecken gehen. Früh wird sie verheiratet und wird auch bald Witwe, unterdrückt fortan all ihre eigenen Bedürfnisse. Ihre Tochter Wu Aixiang trifft auch die frühe Witwenschaft, sie muss sich allein um ihren Sohn und die fünf Töchter kümmern, denn sie habte in kürzestem Abstand fünf Mädchen in die Welt gesetzt, «so wie man Bohnen setzt». Zu ihrem schweren Leben treten gesundheitliche Probleme, deren Quelle eine nach der Geburt ihrer letzten Tochter zwangsweise eingesetzte Spirale ist, die irgendwann mit ihrem Fleisch verwachsen ist. Das Leben von Wu Aixiangs Töchtern wird durch die neue Familienpolitik von Mao Tse-tung bestimmt. Die Bevölkerung bestand aus zumeist armer Landbevölkerung und die Nahrungsmittelversorgung war schlecht. Die Regierung rechnete und meinte, bei ungebremstem Bevölkerungswachstum seien regelmäßige Hungersnöte in China unausweichlich. So wurde das Bevölkerungsoptimum aus ökonomischer und ökologischer Sicht Mitte der 1990er Jahre bei 700 Millionen Menschen gesehen. Damals lag die Bevölkerung aber bereits 75 bis 80 % darüber. Unter diesen Rahmenbedingungen wurde die Ein-Kind-Politik für die Mehrheitsbevölkerung beschlossen. Das bedeutete, dass Frauen sich eine Spirale einsetzen ließen und Schwangerschaften oft mit einem Abbruch endeten, um der Strafzahlung plus weiteren Strafen zu entgehen.
Familienroman über unglücklich Ehen und ungewollte Schwangerschaften
‹Warum müssen Hähne kastriert werden?›, fragte das Mädchen. Es hieß Chu Yu und war die jüngste Tochter der Familie Chu. …
‹Nach der Kastration denken sie nicht mehr an die Hühner, sondern haben nr noch eins im Kopf: Fleisch anzusetzen.› …
‹Aber wenn der Hahn das selbst gar nicht will?›
‹Wenn du zu Hause ein Huhn tötest, um es zu essen, würdest du das Huhn dann erst um Erlaubnis fragen?›
‹Nein›, antwortete das Mädchen ehrlich.
Der Roman beginnt mit der Kastration der Hähne, die letztendlich für all diese Frauen steht, die nicht selbstbestimmt leben und lieben dürfen. Als die Tochter des Sohnes von Wu Aixiang, die vierte Generation der Familie, ungeplant schwanger wird, diskutiert ein Familienrat, ob sie das Kind austragen soll. Sheng Keyi schreibt in ihrem Familienroman über unglückliche Ehen und ungewollten Schwangerschaften - aber auch vom Kampf um weibliche Selbstbestimmung. Alles dreht sich um die Gebärmutter. Frauen haben viele Kinde zu bekommen – oder eben auch keine. Ehen wurden arrangiert, oder der Mann selbst gewählt. Obendrüber steht die Gesellschaft – das Dorf. Die Frau, die nichts wert ist, «selbst bei der Hundezucht zogen die Leute auf dem Land die Rüden den Hündinnen vor.»
Die Frau in der Gesellschaft Chinas
Die eine Seite, die eine Gebärmutter in sich trug, musste die gesamte moralische, reproduktive und schmerzhafte Verantwortung übernehmen. Männer und Frauen kamen gleichzeitig in den Genuss der Sinnesfreuden, aber nur aufgrund der Gebärmutter befanden sich die Männer danach auf freiem Fuß, während die Frauen in einem Netz gefangen.
Die auktoriale Erzählerin springt in einem Wechselbad der Gefühle zwischen flüsternd und laut, barsch bis hin zu zart kitzelnd empathisch mit einer Figur zur andern, die Erzählhaltung auf Weitwinkel gestellt. Mao wird nicht erwähnt, auch nicht die Partei – aber wozu auch – sie hängen wie ein Damoklesschwert über allem, ohne sie zu benennen. Männer, Mütter, Schwiegermütter, das ganze Dorf bestimmt das Leben einer Frau, die sich abrackert, um andere zu bedienen, selbst wenn sie ein Hochschulstudium absolviert hat. Ein Gesellschaftsroman, der in 1900 beginnt und bis in unsere heutige Zeit reicht. Eine Anklage an die Gesellschaft! Empfehlung!
Sheng Keyi, geboren 1973 in der Provinz Hunan, zog in den 1990er-Jahren nach Peking. Seit 2003 hat sie ein umfangreiches, auch international anerkanntes erzählerisches Werk geschaffen, das wie der Roman 'Die Gebärmutter' von einem kritischen Blick auf die chinesische Gesellschaft geprägt ist. Einige ihrer Bücher sind in China verboten.
Sheng Keyi
Die Gebärmutter
Aus dem Chinesischen übersetzt von Frank Meinshausen
Gesellschaftsroman, chinesische Literatur
Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten
DuMont Verlag, 2023
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane
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