Rezension
von Sabine Ibing
Die Einsamkeit der Seevögel
von Gøhril Gabrielsen
Der erste Absatz: Hier ist das Ende der Welt. Danach kommt nichts mehr. Ein endloses Meer grenzt an Klippen und Berge, zwei Extreme, die unaufhörlich miteinander ringen, bei ruhigem Wetter wie bei Sturm.
Eine Wissenschaftlerin reist mitten im Winter für mehrere Monate nach Finnmark, dem äußersten Zipfel Norwegens. Die Icherzählerin betreut dort eine Station am Vogelfelsen, die das Klima und dessen Zusammenhang mit dem Schwinden der Zugvögelpopulationen untersucht. Abgeschnitten in der Einsamkeit bleiben ihr nur die wenigen Gespräche mit ihrem Freund Jo zu vereinbarten Zeiten. Jo soll bald nachkommen eine Zeit hier mit ihr verbringen. In den Unterlagen, die auf der Station liegen, findet sich ein uralter Zeitungsartikel zu einer Familienkatastrophe, die hieran diesem Ort stattgefunden hat. Ihre eigene Familiensituation ist eine Katastrophe. Sie ist geschieden, hat S. alles überlassen: Kind, Haus, Möbel. So hat sie sich ihre Freiheit erkauft – doch S. lässt sie nicht los, klammert an ihr. Sie hat ihn für Jo verlassen. Jo ist gebunden an Maria, seine Tochter, denn seine Exfrau ist ständig unabkömmlich. Und so verzögert sich seine Ankunft immer weiter.
Gefangen in Sturm und Schnee
Meinem Kind. Er sagt das so liebevoll, so selbstverständlich. Als wäre seine Liebe zu Maria größer, ernsthafter, als meine zu Lina. Oder als ob meine Fähigkeit, mich um ein Kind zu kümmern, schwächer wäre, minderwertiger wäre als seine.
Ganz allein, umgeben von endlosem Schnee, tosendem Meer und rauen Naturgewalten, wartet sie auf die Ankunft der Vögel. Geräusche, Schatten, was nimmt sie in dieser halbdunklen Welt wahr? Ihre Beziehung zu S. blättert auf, ein gewalttätiger Mensch, vor dem sie sich hier draußen sicher fühlt. Jo, ihre neue Beziehung. Was war mit der Familie, die hier lebte, wie haben sie gelebt, haben sie sich geliebt, wie kam es zur Katastrophe? Ihre Gedanken kreisen, sie verletzt sich durch einen Angelhaken – fiebert, Fieberwahn. Gedanken schwimmen wie Flüsse zu einem Meer zusammen.
Die Sprache macht eine Wendung
Schnee und Eis können den Niederschlagsmessbecher zudecken und Temperatur- und Feuchtigkeitsmessereinkapseln, der Windmesser kann festfrieren und selbst eine steife Brise von dreizehn Metern pro Sekunde kann schon die Sensoren beschädigen. Ich kontrolliere das Barometer. Tiefdruck. So schnell wird sich der starke Wind nicht legen.
Gøhril Gabrielsen erzählt atmosphärisch distanziert. Hier sitzt jeder Satz, feingeschliffen, reduziert. Das Distanzierte wird unterstrichen, wenn sie über ihre Arbeit resümiert, ihre Beobachtung der Vögel, der Aufzeichnungen, des Wetters: Geräte, Fachausdrücke, wissenschaftlicher Slang. Doch mit der Einsamkeit und dem Fieber, den Verlust, Jo nicht bei sich zu haben, schwirren die Gedankenstränge in einen Topf, die Wissenschaft herausgekocht, wabern Wahn und Wirklichkeit zusammen. Zunächst gibt es sie und ihre Analysen, die Weite des Meeres, die Beobachtung der Vögel, Geräusche. Doch ein Sturm treibt sie nach drinnen, noch weiter hinein das Fieber. Und hier kippt die Sprache, verlässt die Distanziertheit, denn da ist nur noch das Ich. Die sachlich, strukturierte Fassade löst sich auf. Die Ängste aus ihrer Beziehung mit S. überrollen sie: Ein Stück Dachpappe klatscht auf das Haus, bis der Wind es abreißt und fortträgt. Stille. Doch - so erinnert sich die Protagonistin - S. hörte nie auf. In feiner Sprache wird nun aufgelegt, warum die Protagonistin sich ans Ende der Welt verkrochen hat. Sprachlich exzellent, darum auf jeden Fall lesenswert, hat mich die Story selbst nicht immer packen können. Aber das geniale Ende reißt wieder alles raus. Die raue Eiswelt ist kein Paradies, nicht damals, nicht heute, nicht für Menschen, nicht für Vögel – man schlägt sich durch, der eine schafft es, der andere nicht.
Gøhril Gabrielsen, geboren 1961, ist eine norwegische Autorin. Sie wuchs in Finnmark auf, wo auch ihr Roman spielt, und lebt heute in Oslo. Für ihre bislang fünf Romane wurde sie von Literaturkritik und Publikum gleichermaßen gefeiert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Aschehoug Debutant Preis 2006. Die Einsamkeit der Seevögel ist ihr erster Roman in deutscher Übersetzung.
Gøhril Gabrielsen
Die Einsamkeit der Seevögel
Original: Ankomst, 2017
Aus dem Norwegischen von Hanna Granz
Roman
Insel Verlag, Gebunden, 174 Seiten, 2019
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