Direkt zum Hauptbereich

Die Durchlässigkeit der Zeit von Leonorado Padura - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Durchlässigkeit der Zeit 

von Leonorado Padura


Der erste Satz: Das blendend helle Licht des tropischen Morgens fiel wie der Lichtkegel eines Theaterscheinwerfers durchs Fenster auf den kartonierten Jahreskalender an der Wand.

Mario Conde, früher einmal Polizist, hatte vor vielen Jahren den Dienst quittiert. Er fühlte sich schon immer als Außenseiter – bereits sein Nachname ist so wenig sozialistisch geprägt. Mehr schlecht als recht schlägt er sich als Antiquar durch, immer auf der Suche nach einem alten Buch. Und manchmal lässt er sich als Privatdetektiv engagieren, soweit der Job lukrativ für ihn ist. Sein alter Freund Bobby, ein Kunsthändler, wurde ausgeraubt. Während Bobbys Abwesenheit räumte ihm sein junger Lover die Bude aus: Möbel, Familienschmuck usw. Alles nicht so wichtig. Aber die schwarze Madonna, ein Familienerbstück, die will er zurückhaben – aus rein sentimentalen Gründen. Der Lover hatte Bobby einen falschen Namen angegeben, so viel ist schnell klar, die Nummer hat er bereits mehrfach abgezogen: sich bei schwulen, reichen Männern einschleichen und sie bei erster Gelegenheit auszurauben. Auf der Suche nach der Statue muss sich Conde in die Slums von Havanna begeben, allerdings nicht allein, Hasenzahn, Candito und Yoyi El Palomo begleiten ihn, denn dort traut sich nicht mal ein Polizist alleine hinein. Was Conde hier sieht, schockiert selbst einen hartgesottenen Detektiv und Ex-Polizisten. Am Rande von Havanna, haben sich wilde Stadtviertel gebildet. Hier haben sich Menschen ihre Behausungen aufgebaut, die man »Palestinos« nennt, die aus dem Osten der Insel stammen, die ihr Glück im Westen probieren wollen. Aber hier gibt es nichts, außer Kriminalität und Drogen. Auf der anderen Seite recherchiert Mario Conde in die Szene des Kunsthandels, der offiziell auf Kuba verboten ist – eine verschworene Gemeinschaft. Gegensätzlicher können die Gesellschaftsschichten nicht sein! Seit Kuba nach Auflösung der Sowjetunion nicht mehr finanziell unterstützt wird, geht es mit dem Land bergab. An den Sozialismus glaubt schon lange niemand mehr. Auch die Öffnung zum Tourismus kann nicht viel verändern. Das kubanische Volk glaubt inzwischen mehr an Madonnen, als an die Maximo Lider, Fidel Castro & Co., das macht Paduras Roman deutlich.

Alles für die befreite Revolution. Befreite Revolution? Musste es nicht befreiende Revolution heißen? Und hätten die Anarchisten nicht aus Beget im Osten kommen müssen? … dass sie Opfer des schlimmsten Krebsgeschwürs jenes Krieges waren: Die Männer gehörten zu einer Verbrecherbande, die im allgemeinen Chaos, mit den Parolen anderer ihre Gräueltaten begingen. (1936)

In einem zweiten Strang wird die Geschichte der schwarzen Madonna erzählt, die seit ihrer Entstehung weite Reisen zurückgelegt hat. Spanisch-europäische Geschichte wird hier eindrucksvoll eingebunden, Tempelritter, Kreuzzüge, der spanische Bürgerkrieg.

Die ersten vierzig Jahre meines Lebens musste ich mich verstellen, mich unterdrücken und quälen, damit meine Eltern, damit ihr, meine Mitschüler, damit alle Welt in diesem machistisch-sozialistischen Land glaubte, ich sei der, der ich zu sein hatte, und man mir nicht das Leben schwer machte: ein mustergültiger Junge, männlich, militant, atheistisch und gehorsam.

Die kommunistische Ideologie liegt am Boden, an der offiziell die Regierung festhält. Eine kleine Oberschicht hält gute Kontakte in die USA und nach Spanien, in denen viele Exilkubaner leben, macht Geschäfte. Korrupte Beamte halten die Hand auf. Viele Unternehmungen laufen unter der Hand. Der Tourismus, der mangels Devisen zwar zugelassen wird, kann sich unter der kommunistischen Herrschaft aber auch nicht ordentlich entwickeln. Einigen Reichen geht es ziemlich gut, die Masse der Bevölkerung lebt in bitterer Armut oder von der Hand in den Mund – der Traum von Fidel ist gescheitert, für die meisten Menschen gibt es keine Zukunft. Leonardo Padura zeichnet ein Havanna der Gegensätze, ein Land ohne Hoffnung, eine Machismo-Gesellschaft, ein Aufblühen der Kriminalität. Eine Verwahrlosung des Volks, bringt Verrohung mit sich – der Roman ist eine eindrucksvolle Studie der kubanischen Gesellschaftsstrukturen, eine die traurig macht.

Wer denkt, dass die Geschichte ihn verschon hat, der weiß nicht, dass er ohne sein Zutun Teil einer unkontrollierbaren Realität ist. Der Gedanke, dass du dich vor ihr retten kannst, ist eine Illusion, auch wenn du an einem entlegenen Ort lebst, der einem toten Flussarm gleicht. Denn wenn eine Sintflut kommt, wird alles überschwemmt, wird alles aufgewühlt, und der Fluss sucht sich ein neues Bett.

Trotz aller Melancholie, die in diesem Buch steckt, verströmt es auch karibische Heiterkeit und Latino-Flair, mit Sonne, Musik, kubanischen Farben und Gerüchen, alte Villen, Oldtimer, vergänglicher Luxus. Leonardo Padura ist ein Meister des Erzählens, seine Figuren sind tief aufgestellt, glaubhaft und einnehmend. Wir haben hier eine Kriminalgeschichte, zwei Morde sind aufzuklären – aber es ist ebenso eine Reise in die Vergangenheit und ein Abbild des heutigen Kubas, weit mehr als ein spannender literarischer Krimi.

Wie viele Schichten Elend, Resignation, Verwahrlosung und Frustration trennten diese Menschen von der wohlgeformten und wohlgenährten Welt eines Yoyi, Bobby und Elizardo Soler? Sie und ihresgleichen schwebten in unerreichbaren Höhen. Lebten sie wirklich auf dem gleichen Planeten? ... Das Bild von Hieronymus Bosch stellte die Realität dar. Für eine bessere Welt brauchte es ein Wunder.

Leonardo Padura ist 1955 in Havanna geboren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus »Das Havanna-Quartett«. Der Autor ist sehr betrübt, dass seine Bücher zwar im Ausland gut verkauft werden (er veröffentlicht über einen spanischen Verlag), aber in Kuba wegen Papiermangel schwer auf den Markt kommen. Auf den kubanischen Ständen der Buchmessen sind seine Bücher nicht zu finden (bis auf eins in Bailschrift für Blinde), obwohl er zu den meistgelesenen kubanischen Autoren zählt. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen und im Juni 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur. Leonardo Padura lebt in Havanna.


Leonorado Padura
Die Durchlässigkeit der Zeit
Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein:
La Transparencia del Tiempo
Unionsverlag, 2019, 440 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - Himbeereis am Fluss von Maria Parr

  Norwegen, in dem großen roten Haus auf einem Hügel wohnt Ida mit ihrer Familie. Und der fünfjährige Oskar behauptet, ein Monster würde im Kleiderschrank sitzen, erzählt uns die achtjährige Ida. Aber die ernähren sich bloß von Socken, beruhigt sie ihrem Bruder, der nicht glauben will, dass es keine Monster gibt. Wir begleiten die Geschwister ein Jahr lang, von Fluss-Safaris in der Frühlingssonne, ein verregneter Sommer, Einschulung, Hüttenbau und Halloween mit verlorenen Vampiren in der Herbstdunkelheit. Die elf Geschichten sind humorvoll, authentisch und es wird niemals langweilig. Witzig, spritzig, empathisch wird hier Kinderalltag, Familienalltag beschrieben. Empfehlung für das Kinderbuch ab 7 Jahren! Weiter zur Rezension:    Himbeereis am Fluss von Maria Parr

Rezension - Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

  Seit der kleine Bruder auf der Welt ist, kümmern sich die Eltern nur noch um ihn. Dabei sieht Daichi doch aus wie ein Äffchen und kann nichts weiter als schlafen, schreien und in die Windel machen. Der Schwester reicht es. Sie packt einen kleinen Rucksack und sagt Mama, dass sie geht, um sich eine neue Familie zu suchen. Mama sagt jaja und Tschüß – und im Hinausgehen, das Mädchen möge nicht vergessen zum Abendessen zurück zu sein. Ein Pappkarton wird beschriftet: «Kind zu verschenken», und sie setzt sich am Straßenrand hinein und wartet … Wundervolles Bilderbuch ab 6 Jahren über die Gefühle zu sprechen, wenn vom Thron des Einzelkinds gestoßen wird. Weiter zur Rezension:    Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

  Ein Bilderbuch, in das man sich sofort beim ersten Durchblättern verliebt, ohne den Text gelesen zu haben. Und das liegt an den eindrucksvollen Illustrationen von Anita Kreituses. Es war einmal ein Junge, klug, klein und zierlich, der jüngste Sohn einer armen Bauernfamilie. Ständig malte er Katzen. Seine Eltern gaben ihn als Altardiener in den Tempel zur Ausbildung, weil sie meinten, der Junge sei für die schwere Hofarbeit nicht geeignet. Er war aufmerksam und fleißig, und er malte viel, aber immer nur Katzen und das überall. Dem Priester ging er damit auf die Nerven und er schickte ihn fort. Ein Kinderbuch, das jeden Katzen- und jeden Märchenfan begeistern wird. Japanische Kultur, japanischer Mythos – ein gelungenes Bilderbuch für die Abteilung Lieblingsbuch.  Weiter zur Rezension:    Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

Rezension - Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

  Wo sie uns im Alltag begegnet und wie sie funktioniert Was ist eigentlich künstliche Intelligenz? Sie ist ständig um uns herum, ohne, dass wir sie bemerken. Morgens weckt und der Wecker, den wir gestellt hatten, die programmierte Heizung ist bereits hochgewärmt, auf dem Smartphone sind E-Mail, Whatsapp usw. eingegangen, wir spielen unsere Playlist, während die Zahnputzapp das Zähneputzen begleitet und die Rollladen automatisch hochfahren. Das Smartphone erinnert, an die Hausaufgaben, die einzupacken sind usw. Big Data, Deep Learning, KI, Roboter, Chat, Halo-Effekt, AI, Chatbot, Sprachassistenz, Maschinelles Lernen, Computerprogramme, Neuronale Netze, Datenschutz, Programmieren, Internet verständlich für Kinder ab 8 Jahren erklärt, mit allen Vorteilen und Tücken. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sinnlos von Thomas Michael Glaw

  Eine Frau wird von einer Armbrust erschossen. Der Münchner Kriminalrat Benedict Schönheit und sein Team bearbeiten den ungewöhnlichen Mordfall. Die junge Deutsche, die aus dem Libanon stammt, hatte das Elternhaus verlassen, da sie einen Mann heiraten sollte, der ihr nicht gefiel und war zunächst in Köln, dann in München untergetaucht. Ein Ehrenmord liegt nahe – aber auch im privaten Umfeld geraten Verdächtige in den Focus des Ermittlerteams. Sprachlich konnte mich der Krimi auf keiner Ebene überzeugen. Keine Empfehlung. Weiter zur Rezension:     Sinnlos von Thomas Michael Glaw

Rezension - Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

  Saisonal kochen das ganze Jahr. 100 Rezepte, über 300 Varianten Gemüse satt - das ganze Jahr, möglichst regional! Mit über 100 alltagstauglichen Gemüserezepten und unzähligen Tausch-Optionen begeistert dieses Kochbuch nicht nur Gemüsekisten-Fans. Die Kapitel sind nach Monaten aufgeteilt, die Saisongemüse aufgezählt. Ob knusprige Rösti aus Kartoffeln und schwarzem Rettich, gebratener Rhabarber mit Ziegenkäse oder Wirsing-Pasta mit Nussbröseln. Stefanie Hiekmann zeigt, wie man das Beste aus seiner Gemüsekiste herausholt, alles verwertet und saisonale Schätze haltbar macht. Einfach, nachhaltig, gesund und lecker! Die Rezepte sind einfach, also für Anfänger optimal, für den versierten Koch voller Anregungen. Absolute Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann