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Die Bären aus der Rue de l’Ours von Serge Bloch & Marie Desplechin - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Die Bären aus der Rue de l’Ours 


von Serge Bloch & Marie Desplechin


Ohne dass wir jemals umziehen musste, sind meine Eltern und ich in verschiedenen Ländern geboren. Wir lernten nicht die gleiche Muttersprache. Meine Vorfahren zogen nicht in der gleichen Uniform in den Krieg.

Der französische Künstler Serge Bloch wurde in Colmar geboren und mit «Die Bären aus der Rue de l’Ours» setzt er seiner Familie zeichnerisch ein Ehrenmal, Marie Desplechin rundet das Ganze sprachlich wundervoll ab. Colmar im Elsass, mal französich, mal deutsch und wieder französich – Mittelpunkt der jüdischen Familie der Bären ist eine kleine koschere Metzgerei in der Rue de l’Ours. Über den Krieg wurde in der Familie nie geredet, sagt Serge Bloch, aber natürlich muss bei einer jüdischen Familie in diesem Buch kurz darauf eingegangen werden. Viele Elsässer Juden flüchteten vor den Deutschen und wenigen gelang die Rückkehr nach dem Krieg. Blochs Mutter überlebt unentdeckt in einem katholischen Pensionat. Der Vater, als Deutscher geboren, nun Franzose, diente bei seiner Armee, war 1940 plötzlich staatenlos im Elsass, versteckt sich getarnt als Köhler in einem Wald. Nach dem Krieg bringt der Großvater die Metzgerei und das Haus, das den Deutschen als Bordell gedient hatte, wieder in Schuss und das Leben nimmt wieder Normalität auf.





Ich wurde in eine Welt hineingeboren, die jahrhundertelang allen Schikanen und Scheiterhaufen getrotzt hatte, heimlich, still und leise verpuffte und heute nicht mehr existiert.

© Kunstanstifter Verlag


Wundervoll werden in kleinen Geschichten die beiden Großeltern porträtiert, die Eltern, Tante und Onkel. Die zwei Brüder führen gemeinsam die Metzgerei: Tante Thérèse steht hinter der Theke, Onkel Georges führt den Einkauf und die Buchhaltung, Papa Sylvain kümmert sich in seinem »Laboratorium« ums Ausbeilen und Wursten. Zwei Brüder, die sich nicht leiden können, zwei Ehefrauen, die sich nicht leiden können. Mit charmantem jiddischem Humor beschreibt Serge Bloch seine Kindheit in der Rue de l’Ours: Synagoge, jüdische Bräuche, Kinderstreiche, Rabis und Religionsunterricht, Lyceé, ein munteres Familienleben. Ein humorvolles Buch, lebendig geschrieben, etwas für erholsame Stunden. Die Grafiken von Serge Bloch sind reduzierte Stiftzeichnungen, ausdrucksvolle Satire die mit dem Text wunderbar harmonisieren.

Samstags, am Schabbat, sündigte mein Vater gleich dreifach. Er schwelgte in Arbeit, Schinken und Butter, die gottloseste Kombination, die es gibt.

Der französische Künstler Serge Bloch wurde in Colmar geboren und mit »Die Bären aus der Rue de l’Ours« setzt er seiner Familie ein ganz besonderes Denkmal. Dreh- und Angelpunkt des Familienlebens ist eine kleine koschere Metzgerei in besagter Rue de l’Ours und Bloch erzählt in kurzen und vor allem sehr kurzweiligen Kapiteln von seinen Eltern, den Onkeln und Tanten, den Großeltern und wie sich jeder auf seine Weise mit dem Leben arrangieren musste. Das ist nicht nur sehr unterhaltsam, denn Marie Desplechin versteht es, Blochs Erinnerungen in ebenso lustige wie anrührende Worte zu fassen, nebenbei erfährt man auch viel über jüdisches Leben und das Elsass. Erstaunt lies man beispielsweise, dass zwar alle Familienmitglieder am selben Ort geboren wurden, aber unterschiedliche Nationalitäten besitzen und der Großvater für den kleinen Serge nur schwer zu verstehen war, weil er nur Deutsch sprach.


Marie Desplechin, 1958 in Roubaix geboren, studierte Literaturwissenschaft und Journalismus und arbeitete anschließend im Pressewesen, in der Werbebranche und als Lehrerin. Heute ist sie vor allem freiberu ich für verschiedene Zeitschriften tätig. Für ihr Buch »Endlich Hexe!« erhielt sie 1997 den französischen Preis »Das lustigste Buch des Jahres«.

Serge Bloch, 1956 in Colmar geboren, begann nach seinem Abschluss an der École supérieure des arts décoratifs de Strasbourg im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zu arbeiten. Zudem ist er als Illustrator für Zeitungen und Magazine wie die New York Times, Le Monde und die Süddeutsche Zeitung tätig. Für seine Arbeit wurde Serge Bloch mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet. Heute lebt er in Paris und New York.


Serge Bloch & Marie Desplechin 
Die Bären aus der Rue de l’Ours
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Buchgestaltung: Theresa Schwietzer
Familiengeschichten, Kurzgeschichten, jiddisches Leben, Satire
Hardcover mit Prägung, 135 x 185 mm, 192 Seiten
Kunstanstifter Verlag, 2020





Kohnversation – Cartoons von Ruth Lewinsky und Charles Lewinsky 

Jiddischer Humor, koscheres Essen, orthodoxe Juden, religiöse Vorschriften, die das Leben schwer machen, aber auch Familiensorgen, Alltagsstress, essen und kochen, Finanzen, Antisemitismus - mit feinem Humor bringt das Ehepaar Lewinsky gemeinsam mit Feder und Text Cartoons zu Papier.
Weiter zur Rezension:   Kohnversation – Cartoons von Ruth Lewinsky und Charles Lewinsky

Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Romane sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgnoessische Romane


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