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Desert Moon von James Anderson - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Desert Moon 

von James Anderson


Der erste Satz: Eine rote Sonne balancierte auf dem Horizont, als ich beim Well-Known Desert Diner ankam.

Ben Jones ist Trucker, und er fährt jeden Tag die Route 117, ein hundert Meilen langer Abschnitt des Utah Highway zwischen Price und der fiktiven ehemaligen Kohlestadt Rockmuse, mitten durch die Wüste. Wer hier wohnt, hat meist Strom, keine Telefonleitung, keine Wasserleitung, sondern Generator, Wasserreservoir und eine Satellitenschüssel – so weit man Geld dafür hat. Wer hier in der Einsamkeit lebt, ist meist ein armer Schlucker oder zu alt, um noch wegzuziehen, oder er hat seine Gründe, hier draußen versteckt zu leben. Ben beliefert die Leute mit seinem Truck für FedEx, UPS usw. – alles was sie bestellen, lädt er im Logistikzentrum ein: Ersatzteile für Maschinen, Bekleidung, Lebensmittel, bis hin zu Eiscreme. Und wenn sie ein rotes Tuch an der Straße auslegen, hält er an, um ihre Bestellungen für Waren aus der Stadt zu einzusammeln. Seit die Bergwerke geschlossen sind, wohnen hier immer weniger Menschen und Ben weiß nicht mehr, wie er seine Miete und seine Leasingraten für den Truck bezahlen soll, sein Telefon ist bereits abgestellt.

Sie reden nicht mal mit den Nachbarn. Die sind sich in nichts einig, außer darin, dass sie in Frieden gelassen werden wollen. Sie haben was gegen alles und jeden.‹
›Es muss mehr dahinterstecken.‹
›Wenn ja, hab ich keine Ahnung, was es sein könnte‹, sagte ich. ›Sie wollen es nicht anders, da fragt man dann besser auch nicht nach. Jeder weigert sich stur, einen Briefkasten aufzustellen. Und nach dem Gesetz darf die Post ohne Briefkasten keine Sendung ausliefern.

Skurrile Typen - White Trash

Der Leser begleitet Ben auf seinen Touren, erlebt einen Typen, der an der Straße entlang ein Holzkreuz durch die Hitze zu schleppt, kauzige, scheue Menschen, die meist am Rande der Existenz leben, sich keinen Luxus leisten können. Ben stammt von hier – er gehört dazu. Er lädt auch Kisten am »Well Known Desert Diner« aus, ein Relikt aus dem Jahr 1929, und bis 1987 oft Drehort von B-Movies genutzt, das dem alten Walt Butterfield gehört, einem verbitterten, wütenden Kerl, der Oldtimer-Motorräder repariert. Das Diner hat nicht mehr geöffnet, seit Walts Frau gestorben ist. Je mehr wir über die Bewohner der Wüste erfahren, umso skurriler werden sie  – umso tiefer dringt man hinein in die Figuren, in die Einsamkeit, in die Einfachheit. Dieses Hillbilly-Sezario ist vielschichtig in seinen Protagonisten. James Anderson lullt uns literarisch, trügerisch ein in die die Atmosphäre der Wüstenlandschaft, die brutal ist und doch so schön. Im Untergrund klopft es.

Wenn überhaupt, hat man hier nur unregelmäßig Empfang. GPS und Funk funktionieren auch nicht viel besser. Nicht mal Satellitentelefone. Diese Wüste ist ein Bermudadreieck aus Sand und Steinen.

Melancholisch, naturgewaltig, brutal 

Ben, der Icherzähler hat einen humorigen Unterton, ein wenig sarkastisch, und er ist einen Menschenfreund, nimmt jeden, wie er ist. Aus der Gemütlichkeit wird man herausgehoben, als eine Frau auftaucht. Ben sieht sie, während er am Straßenrand pinkelt, in einem verlassenen Haus, wie sie nackt Cello spielt. Er stutzt. Und dann taucht diese merkwürdige Anhalterin auf und ein TV-Filmproduzent, der ein paar Tage bei Ben im Truck mitfahren will – eine Reportage drehen will. Ben hat keine Lust, aber er braucht das Geld. Ab diesem Punkt setzt der Sog ein, die Spuren für den Country-Noir sind gelegt. Geheimnisse werden Stück für Stück gelüftet, alles in der Atmosphäre der staubigen, unerbittlichen Wüste, kauziger Typen. Melancholisch, naturgewaltig, brutal – ein wirklich guter Roman, der die Atmosphäre für ein verlassenes Gebiet öffnet, früher eine durch Kohlebergbau lebendige Gegend, heute Rückzugsort für White Trash. Feine Beobachtung, gute Dialoge, eine runde Sprache, bildgewaltig mit erzählerischer Kraft, machen den Romann zum Leseschmaus.

Es gab unzählige Möglichkeiten, sich zu verletzen oder gar den Tod zu holen. Seit Schließung des Bergwerks gab es in Rockmuse keinen Arzt mehr, was einige getötet und etliche mehr stinkwütend zurückgelassen hatte.  Aber stärker hatte es keinen gemacht. Allerdings hatte ohnehin so gut wie niemand eine Krankenversicherung oder das Geld für eine Behandlung, schon gar nicht im Krankenhaus.

James Anderson wurde in Seattle, Washington, geboren und wuchs in Oregon auf. Er war viele Jahre in einem Buchverlag tätig. Zu seinen anderen Berufen gehören Holzfäller, Fischer und für kurze Zeit LKW-Fahrer. Er teilt seine Zeit zwischen Ashland, Oregon und den Four Corners des amerikanischen Südwestens auf. »The Never-Open Desert Diner« ist sein Debütroman.


James Anderson 
Desert Moon
Original: The Never-Open Desert Diner
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke
Polar Verlag,  2018, 344 Seiten
literarischer Thriller, Country-Noir

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