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Der Tätowierer von Auschwitz von Heather Morris - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing


Der Tätowierer von Auschwitz 

(Die wahre Geschichte des Lale Sokolov) 


von Heather Morris


Sprecher: Julian Mehne, Sabine ArnholdUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 7 Std. und 18 Min.

 Der erste Satz:
Lale versuchte nicht aufzublicken.

1942 wird der jüdische Slowake Ludwig Eisenberg, genannt Lale, nach Auschwitz deportiert, in einem Waggon für Viehtransporte, mit dem Unterschied, dass Tiere besser behandelt werden. Er meldete sich freiwillig, da jüdische Familien aufgefordert wurden, ein männliches Mitglied in den Arbeitsdienst zu geben. Er kommt ins Arbeitslager Auschwitz-Birkenau, in dem die arbeitstauglichen Häftlinge landen. Er glaubt damit, den Rest seiner Familie zu beschützen. Lale kommt in die Hölle und nimmt sich vor, diese lebend zu verlassen, koste es, was es wolle. In der ersten Nacht will er auf die Latrine gehen, beobachtet, wie zwei Häftlinge auf der Latrine erschossen werden, nur weil sie sich in der Nacht dort aufhalten … Schnell schafft es Lale, sich den Job eines Tätowierers zu ergattern, immer mehr Häftlinge kommen an, der einzige Tätowierer benötigt Hilfe und Lale spricht viele Sprachen. Der Job bringt Vorteile mit sich: bessere Unterkunft und bessere Verpflegung, eine eigene Kammer in der Zigeunerunterkunft. Lale bemüht sich, die Häftlingsnummern auf die Unterarme seiner Mitgefangenen mit möglichst wenig Schmerz zu stechen. Und er verliebt sich in Gita. Die Liebe und der Glauben, gemeinsam die Hölle zu überleben, hält die beiden am Leben. Die Zigeuner werden seine neue Familie.

Jeder versucht zu überleben, frei nach Brecht: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Lale nutzt die Vorteile, die er hat, er kann sich mehr oder weniger frei im Lager bewegen, handelt verdeckt mit Russen (Kriegsgefangene, die als Wachmänner dienen) und beschafft so Lebensmittel und Medikamente. Die Frauen haben die Aufgabe, in »Kanada«, die Ankunftsbaracke, die Habschaften der Neuankömmlinge zu sortieren. Kanada, weil es weit weg liegt, Freiheit impliziert. Lale bittet sie, keine Dinge wie Edelsteine und Geld, einzustecken. Diese tauscht er bei den Russen gegen Brauchbares ein, meist Lebensmittel. Lake geht hohe Risiken ein, um Mithäftlingen zu helfen. Er erlebt Schreckliches, sieht Dinge, die er zuerst nicht glauben kann. Schwerstarbeit, Unterernährung, wer nicht arbeitsfähig ist, wird abgeführt. Aschewolken fliegen über Auschwitz, jeder versucht seinen Vorteil zu erhaschen – zu überleben. In Auschwitz weint man nicht, egal was man erlebt. Stets den Blick gesenkt, den Mund geschlossen, nur antworten, wenn man gefragt wird. Nicht fragen, wohin man die Zigeuner gebracht hat. Man weiß es ja, Asche regnet herunter.

Oft schlich er sich an Lale heran, während er eine Opernmelodie vor sich herpfiff, und terrorisierte ihn. - ›Eines Tages, Tätowierer, werde ich dich nehmen.‹

Es läuft einem kalt den Rücken herunter, wenn Lale Josef Mengele beschreibt, ein eiskalter Mann, der Opernmelodien pfeift, während er Patienten herausfischt unter den Neuankömmlingen. Die kommen ins Krankenhaus, werden dort behandelt, denen geht es sehr gut, sagt Mengel … Eines Tages wird der zweite Tätowierer, ein hübscher junger Kerl, von Mengele herausgepickt. Monate später kommt er zurück, psychisch völlig kaputt. Mengele hatte ihm die Hoden abgetrennt, über die anderen Dinge, die man mit ihm machte, redet er nicht.

Wer anderen hilft, dem wird selbst geholfen. Lale kommt in Schwierigkeiten, andere stehen ihm zur Seite. Eines Tages herrscht Unruhe im Lager, die Deutschen transportieren Dokumente ab, andere werden verbrannt. Die Frauen treibt man zusammen, sie werden verlegt, müssen zu Fuß gehen – bekanntlicher Maßen ein Marsch, den viele nicht überlebten. Lale haut ab, gerät in Gefangenschaft von Russen. Auch hier fängt er gleich wieder an zu handeln, der Krieg ist noch nicht beendet ... Er schafft es, Vertrauen zu gewinnen, um dann mit der Kasse zu fliehen. Zurück in der Heimat findet er lediglich seine Schwester vor, der Rest der Familie ist tot. Die Schwester hat einen Russen geheiratet, Lale nimmt ihren Nachnamen an:  Sokolov, ein deutscher Name ist in Russland ein Problem. Lale findet auch Gita wieder. Sie heiraten, leben zunächst in Russland, wo Lale eine Firma eröffnet, im Schwarzmarktgeschäft mit Stoffen umtriebig ist. Er landet im Gefängnis, Freunde helfen, das junge Paar flieht über Wien, Paris nach Australien. Sie bauen eine Fabrik auf, haben einen Sohn zusammen.

2003 stirbt Gita. Lale bittet die neuseeländische Drehbuchautorin Heather Morris, seine Geschichte, die von Häftling Nummer 31407, aufzuschreiben:

Sie müssen schnell arbeiten. Ich habe nicht mehr viel Zeit.« 
»Müssen Sie irgendwohin?«
»Ja. Ich muss zu Gita.

Lale Sokolov schwieg 50 Jahre lang, da er befürchtete, man würde ihn als deutschen Kollaborateur beschimpfen. Er hat lediglich versucht zu überleben. Er  ließ Unrecht geschehen, wirft er sich selbst vor. Doch was hätte er tun sollen? Ein falsches Wort und er wäre in der Gaskammer gelandet. Und er hat nicht Unrecht, denn er berichtet auch von Gitas Freundin Cilka, die Lale aus einer schwierigen Situation heraushilft – durch Kontakte. Die Inhaftierte Cilka war die Geliebte eines SS-Hauptmanns, der sie verprügelte – auch sie wollte überleben. Als Nazi-Verschwörerin wurde sie 1945 zu 15 Jahren Strafarbeit in Sibirien verurteilt. 

Heather Morris hat drei Jahre mit Sokolov  gesprochen, denn die Geschichte erzählte Lale Bruchstücken, die sie zusammenfügte, nachrecherchierte. Daraus ist ein Roman entstanden, ein feiner Roman, mit einer distanzierten Sichtweise, mehr würde der Leser nicht ertragen. Allerdings trotzdem mit sehr viel Gefühl und Entschuldigungen, viel wörtlicher Rede. Ich glaube, mir hätte eine Reportage besser gefallen, ein neutraler Bericht, um mir selbst eine Meinung zu bilden. 
Natürlich will jeder überleben und es ist verständlich, sich Privilegien zu erarbeiten, sie zu nutzen, um zu überleben, anderen zu helfen. Allerdings nutzt Lale seine Position auch, um sich selbst zu bereichern, er spart etwas unter seiner Matratze, Edelsteine für die Zeit nach dem Lager. Da habe ich ein wenig geschluckt. Er sagt, er nehme schließlich nicht den Gefangenen ihre Wertsachen ab, sondern den Nazis, die es sonst in die Hände bekommen würden – Entschuldigung? Es bleiben Blutdiamanten. Als Lale von den Russen einkassiert wird, handelt er mit Frauen, vermittelt zwischen willigen Frauen und Soldaten. Die Kasse der Kommandantur bezahlt die Damen mit Edelsteinen und Dollar, Lale nimmt sich jeden Tag seinen Teil und brennt später mit der Kasse durch. Wieder Blutdiamanten. Damit er überlebt? Und der geschäftstüchtige Mann ist in Freiheit in Russland gleich wieder an illegale Geschäften beteiligt, nimmt sogar deshalb einen russischen Namen an. Kaum in Australien angekommen, errichtet er wieder eine Fabrik, er hatte ja Gelder aus den Russlandgeschäften gut versteckt. Auschwitz – ein Mann überlebt – Respekt. Alles was danach kommt, nimmt mir ein wenig die Achtung vor  Sokolov. Ein windiger Geschäftsmann entpuppt sich aus diesem Charakter. 

Neben allen nachträglichen Gedanken zu Lale, wider aller Moral, der Roman ist sehr lesenswert. Und wahrscheinlich verkauft sich ein Roman besser als eine Reportage. In diesem Sinn meine Empfehlung. Wer etwas über die Hölle in Auschwitz und Birkenau erfahren will, liegt hier richtig. Ein Buch, das unter die Haut geht. Heute wichtiger als je zuvor: Wir wollen diese Zeit nicht vergessen!

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