Rezension
von Sabine Ibing
Der Stein fällt, wenn ich sterbe
von Joe Wilkins
Der Anfang:
Als der SUV des Nachbarsmädchens die Strasse hinunter verschwand, sah Wendell zu, wie der von den Reifen hochgewirbelte Staub aufglomm und durch Gold und Ocker in allen Schattierungen rieselte, und hoch droben am Abendhimmel ein Perlblau. Erntelicht, Spätaugustlicht – spärlich, schräg einfallend und körnig. In seinem Rücken die schon blau angelaufenen, dunklen Berge.
Ein Roman, in den man hineinfällt, ein literarischer Thriller, ein Western, ein Epos, das zu meinen Lesehighlites des Jahres gehört. Bull Mountains, Montana, zwei Stränge, die unheilvoll miteinander verbunden sind. Der vierundzwanzigjährige Wendell Newman hat vor kurzem seine Mutter verloren, sein Vater Verl ist seit Jahren verschwunden, nachdem er in unbändiger Wut auf den verhassten Staat einen Wildhüter erschossen hatte, der ihn beim Wildern erwischt hatte. Eines Tages liefert die Jugendhilfe den traumatisierten siebenjährigen Rowdy in Wendells Trailer ab, der Sohn seiner Cousine, die zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Wendell sei der einzige Verwandte. Er kümmert sich empathisch um den autistischen Jungen, der nicht spricht und gewinnt Zugang zu ihm. Die Lehrerin Gillian lebt allein mit ihrer Tochter Maddy, ihr Mann, ein BLM-Ranger, wurde von Wendells Vater erschossen. Gillians versucht Eltern zu motivieren, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, ist frustriert, weil man die ländliche Bevölkerung in ihrem Hass auf den Staat kaum erreicht. Die Wendell und Maddy, vaterlos aufgewachsen, befreunden sich, ohne zu wissen, wie ihre Familien zusammenhängen.
Rotes gegen blaues Amerika
Das Land selbst rief Kummer und Zorn ins Leben, gebar, hätschelte und nährte Angst und Versagen, eine rohe und selbstgerechte Gewalt.
Der Roman ist aus drei Perspektiven gestaltet, die tief in die Charaktere gehen und dicht an den Personen entlang agieren: Wendell, Gillian und Verl (Wendells Vater), der allein in den Bergen haust, eine Art Brieftagebuch für seinen Sohn niederschreibt. Joe Wilkings schreibt zum Verlieben – Naturewriting gepaart mit gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung. Hillbillys gegen Naturschützer, Farmer gegen den Staat, rotes gegen blaues Amerika. Ein Wolf sei aus dem Yellowstone-Nationalpark in die Bull Mountains gewandert, sagt man, worauf patriotische Gruppen zum Kampf blasen, aufrüsten, ihr Vieh zu schützen.
Am Rande Existenzminimums
‹Da haben sie rechts und links die Mühlen geschlossen und wir wurden alle arbeitslos. Jeder den ich kannte, hatte irgendwie mit der Holzfällerei zu tun …›
‹Mein Vater hat sich erschossen›, sagte er. ‹Das hat mein Alter getan, als man ihn entlies und wieder eingestellt hat und wieder entlies, und dann hat man seinen Lastwagen beschlagnahmt und ihm wirklich sein verdammtes Leben weggestohlen. Alles weggestohlen wegen diesem verdammten Fleckenkautz.
Hier werden Gegensätze deutlich: Die Mittelklasse sitzt abends im Restaurant der Städte, genießt Chardonnay, italienisches Essen und Salat, zu Hause wird mit frischen Zutaten liebevoll gekocht, alles mit duftenden Kräutern garniert; bei den Farmern kommt ein dickes Steak auf den Tisch mit deftigen Beilagen; die Hilfsarbeiter in ihren Trailern ernähren sich von Nudelsuppe aus der Dose, Cracker, Erdnussbutter – ein Muffin ist für die Kinder etwas Besonderes. Passend zur Ruhe der Berge, passt sich der Autor an den Lebensrhythmus seiner Bewohner an und entrollt langsam, man könnte sagen zärtlich, die Vergangenheit seiner Protagonist:innen, ihre Ängste, ihr Begehren, ihre Abgründe. Niemand ist hier gut oder böse, sondern sie alle sind Menschen, die in ihre Lebenssituation verfangen sind. Wendell ist nicht so wie die anderen jungen Männer mit ihrem nationalistischen Gehabe. Er war von der High-School abgegangen, um seine kranke Mutter zu pflegen und arbeitet als Cowboy, repariert Zäune und Maschinen, treibt das Vieh zu Standorten. Der Trailer ist das letzte, was ihm verblieben ist vom Familienerbe – die einst eine große Farm besaß. Er kommt klar, kann sich gerade so über Wasser halten mit Nudelsuppe und Crackern, hin und wieder Fleisch, das er sich jagt. Er hält sich fern von der Gruppe, die zum Kampf aufruft, auf den Tag des Umsturzes wartet.
Hoffentlich werden noch viele Bücher von Joe Wilkins übersetzt!
Dieses Land, wo das Versagen der Nation das Versagen der Mythen, auf das Versagen der Menschen traf. Wo die Geschichte sich ins Grab legte. Wo Flüsse, die im April noch randvoll waren, im August im Kies verlandeten. Wo das Gras vor dem Pflug dicht und fest war und dann auf ewig nur noch Staub aufwirbelte von dem versalzten, verkrusteten Boden hinter dem Pflug. Ein Land wo Borkenkäfer wüteten, die Sommer immer länger, und die Winter kürzer und trockener wurden.
Der Existenzkampf der Farmer wird beschrieben, der Wechsel des Klimas, Erosion, das Austrocknen von Flüssen und Brunnen. Die staatlichen Vorschriften contra den traditionellen Besitzansprüchen der Einheimischen führen zu tödlichen Missverständnissen und Selbstjustiz. Die Kultur der Rocky Mountains wird mit beißender Genauigkeit darstellt, Eigentumsverlust, ein Bild von Armut und Verzweiflung, Drogenkonsum, der Verlust von Bildung und Gesundheitsversorgung. Hillbillys, die genau die Leute wählen, die ihnen die Würde nehmen, weil die weiße Landbevölkerung des Westens seit Generationen realitätsfern auf einem völlig anderen Planeten lebt. Aber Joe Wilkins klagt nicht an, sondern transportiert das Thema mit viel Empathie und Verständnis für die Menschen. Ein unsagbar guter Westen, ein Western-Thriller, und die Schreibweise erinnert mich an John Williams, an «Butcher’s Crossing». Ein Roman, der poetisch geschrieben ist, in all seiner Grausamkeit des Lebens. Wer John Williams mag, wird auch dieses Buch lieben. Selten habe ich einen Roman gelesen, der so tief und empathisch in die Auseinandersetzung seiner Protagonisten hineingeht. Mehr als eine Empfehlung! Hoffentlich werden noch viele Bücher von Joe Wilkins übersetzt!
Und der Tag verlor sich in seine Tiefen. Wurde zu einem kratzenden und knurrenden, luftholenden Etwas. Ein grosses, muskulöses Tier stellte sich auf seine Hinterbeine, richtete sich zu seiner vollen, schrecklichen Grösse auf und sog die untergehende Sonne, den schwachen Wind und die Abendlieder der Vögel in seine Lungen ein. Es atmete sie alle ein, als wären sie Staub, und atmete sie wieder aus.
Joe Wilkins wurde 1978 auf einer Ranch nördlich der Bull Mountains in Montana geboren, wo er auch aufwuchs. Er studierte Ingenieurwesen und kreatives Schreiben. Bisher veröffentlichte er zwei Romane und vier Gedichtbände, ausserdem Essays und Erzählungen in zahlreichen Zeitschriften. Sein Roman «Fall Back Down When I Die» wurde 2020 mit dem High Plains Book Award ausgezeichnet und ist inzwischen ins Französische, Italienische und Spanische übersetzt worden. Wilkins lebt mit seiner Familie in Oregon, wo er das Kreativprogramm der Linfield-Universität leitet.
Der Stein fällt, wenn ich sterbe
Originaltitel: Full Back Down When I Die
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Irma Wehrli
Western, Western-Thriller, Literarischer Thriller, Thriller, Montana, Amerikanische Literatur
Softcover, 373 Seiten
Lenos Verlag, 2023
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller
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