Rezension
von Sabine Ibing
Der schwärzeste Winter
von Carlo Lucarelli
Ein Commissario-De-Luca-Krimi
Der Anfang:
Der Deutsche riss die Tür auf und steckte den Kopf ins Wageninnere, wobei er achtgab, mit dem Helm nicht gegen den Dachholm zu stoßen. Den Handschuh, den er ausgezogen hatte, trug er wie ein Hund im Mund, denn mit der anderen Hand hielt er den Griff der Maschinenpistole. Der Zeigefinger im dicken Wollhandschuh lag auf dem Bügel des Abzugs. Er nahm die bereitgehaltenen Papiere, die Franchina ihm reichte, und blickte die beiden lange reglos an: Der junge Mann am Steuer hatte noch Pickel im Gesicht und Brillantine in den gewellten Haaren; De Luca daneben, im Sitz des Fiat 1100 vergraben, trug einen hellen Trenchcoat, der viel zu leicht für den bereits kalten Wintertag war.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Zeitungsausschnitt der «Resto del Carlino», einer Zeitschrift, die zu dieser Zeit von den regierenden Faschisten herausgegeben wird: «‹Il Resto del Carlino›, Freitag, 1. Dezember 1944, XXIII, Italien, Reich und Kolonien, 50 Centesimi.» Insofern verfolgt der Leser parallel in Originalauszügen der Propagandazeitschrift diese Zeit. Commissario De Luca ist jetzt Teil der politischen Polizei und steht damit an der Seite der Faschisten. Die Menschen der besetzten Stadt im Winter bei Eiseskälte, ausgeblutet von den Bombenangriffen leben in ständiger Angst, leiden Hunger. Wehrmacht und SS werden flankiert von Mussolinis «Schwarzen Brigaden», die äußerst grausam auf Partisanenaktionen reagieren; doch die Antifaschisten agieren weiter im Untergrund. Drei Morde: Ein erschlagener Ingenieur, ein erschossener Professor und ein nackter, verstümmelter SS-Mann (Erkennungsmerkmal, die 0 für die Blutgruppe unter die Achsel tätoviert); und De Luca soll nun für drei Auftraggeber ermitteln: für die Faschisten, für die Nazis und undercover für die Kollegen des geheimen «antifaschistischen Polizeipräsidiums» – ein führender Kopf des Widerstands wird nämlich zu Unrecht beschuldigt, einen Mord begangen zu haben.
Es war jemand von der Guardia Nazionale Repubblicana oder den Schwarzen Brigaden oder sonst einer politischen Organisation gewesen, man hatte ihn in eine Kaserne gebracht, massakriert und dann hier abgelegt. Deshalb hatte Rassetto, der Leiter der autonomen Polizeigruppe, der De Luca angehörte, ihn geschickt, denn er wusste am besten, wie man so etwas vertuschte.
Der Noir-Krimi besteht aus drei Teilen: «Die Morde», «Die Ermittlung», «Die Mörder». Die Geschichte ist hochbrisant und kunstvoll konstruiert – allein schon dafür meine Hochachtung. Ziemlich schnell gibt es Verdächtige und eine Menge falscher Spuren. Die Auflösung ist brillant. Die Zeiten sind gefährlich, Faschisten, SS, Revolutionäre – wer gehört zu wem? Wem darf man was sagen und wem kann man vertrauen? Verhaftungen und Anschläge gehören zur Tagesordnung. Selbst die Schwarzen Brigaden sind spinnefeind mit den Deutschen.
Sie wissen doch, was dort passiert ist. Nein? Ist gut, Sie haben recht, in Marzabotto ist nichts passiert.
Geschickt spielt Carlo Lucarelli neben den Zeitungsartikeln historische Eckdaten ein. Marzabotto, ein Dorf, in dem die Waffen-SS ein Massaker an der Bevölkerung verübte – darf als solches nicht erwähnt werden. Ein Zeuge wird De Luca zugespielt, den er offiziell nicht erwähnen darf. Denn es handelt sich um einen jüdischen Anwalt, der sich in einem Keller versteckt hält, um der Deportation durch die Deutschen zu entgehen. Frauen, deren Männer sich in Kriegsgefangenschaft in Deutschland befinden. Die Amerikaner rücken aus dem Süden vor, wie lange noch können sich die Faschisten halten? Natürlich kommt De Luca ständig in Gewissenskonflikte. Alle Optionen offenhalten ...
Eine Ermittlung war vom Präfekten und eine von den Deutschen in Auftrag gegeben worden…Und jetzt auch noch von der Resistenza. Oder nahezu.
De Luca ist zur politischen Polizei zugeordnet worden, was ihm nicht passt. Er ist ein guter Ermittler, ein Commissario, und er will Morde aufklären – mit den Faschisten hat er nicht viel am Hut. Nun hat er drei rivalisierende Gruppen im Nacken und muss genau aufpassen, was er tut. Ein falsches Wort, ein falscher Schritt und er würde mit dem Leben spielen. Was ihn antreibt, ist seine Neugier, die Ermittlung, die Täter zu finden – und natürlich die Sache, einen Unschuldigen aus dem Gefängnis zu holen, ihm das Leben zu retten. Ein spannender historischer Krimi, der eine gefährliche Zeit atmosphärisch beschreibt, ein intelligenter Plot, für mich eine Meisterleistung im Genre Noir Kriminalliteratur.
Carlo Lucarelli ist 1960 in Parma geboren, lebt bei Bologna. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Journalist, Regisseur und Fernsehmoderator. International bekannt wurde er durch seine Kriminalromane, die in viele Sprachen übersetzt, mehrfach preisgekrönt und verfilmt wurden. Mitbegründer des «Gruppo 13» und Lehrer an der «Scuola Holden» für kreatives Schreiben.
Der schwärzeste Winter
Ein Commissario-De-Luca-Krimi
Originaltitel: L’inverno più nero
Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Fleischanderl
Krimi, Kriminalliteratur, historischer Krimi, Noir-Krimi, italienische Literatur, Zweiter Weltkrieg, Faschismus
Qualitypaperback, 319 Seiten
Folio Verlag, 2021
Krimis und Thriller
Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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