Rezension
von Sabine Ibing
Der Morgen einer neuen Zeit
von Ken Follett
Kingsbridge Serie
Gesprochen von: Tobias Kluckert
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 28 Std. und 59 Min.
Der Anfang:
Edgar fand es schwierig, die ganze Nacht lang wach zu bleiben, dabei war es die wichtigste Nacht seines Lebens.
Er hatte seinen Umhang über die Binsen auf dem Fußboden gebreitet und lag nun darauf in seinem knielangen Hemd aus brauner Wolle, das er den ganzen Sommer lang trug, Tag und Nacht. Im Winter hüllte er sich in den Umhang und lag in der Nähe der Feuerstelle.
Ken Follett geht mit diesem Teil weit zurück in seiner Kingsbridgeserie – back to the roots – in die Zeit vor «Die Säulen der Erde». England im Jahr 997, ein Prequel. Der junge Bootsbauer Edgar wartet im Morgengrauen auf seine Geliebte, eine verheiratete Frau, mit der er durchbrennen will. Da entfaltet sich für ihn am Horizont auf dem Meer das Bild des Grauens: die Drachenboote der Wikinger! Er rennt zurück in die Stadt, will die Familie warnen, die Geliebte retten, aber es ist zu spät, und er biegt ab zum Kloster und läutet die Glocken, um die Bürger von Combe zu warnen. Einige Menschen retten sich, doch das Massaker in der Stadt hat bereits begonnen. Edgars Geliebte und auch sein Vater sind unter den Opfern. Auch die Werft der Bootsbauer brennt nieder, sowie Edgars Elternhaus. Edgar bleibt mit Mutter und zwei Brüdern mittellos zurück. Einen Ausweg bietet Priorei an: die Pacht für einen verlassenen Bauernhof in Dreng’s Ferry im Landesinneren; eine armselige Hütte! Gleich um die Ecke liegt das Örtchen Ort Shiring.
Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er etwas sah, das noch schlimmer war als ein Ungeheuer: Es war ein Schiff mit einem Drachenkopf am Ende des langen gebogenen Vorderstevens.
Ein weiteres Schiff kam in Sicht, ein drittes, ein viertes. Ihre Segel waren gebläht vom auffrischenden Südwestwind, und die leichten Fahrzeuge glitten rasch durch die Wellen. Edgar sprang auf.
Die Wikinger – oder Dänen, wie man sie hier meist nannte – waren Räuber, Frauenschänder und Mörder. Sie griffen längs der Küste an und an Flussufern. Sie setzten Städte in Brand, raubten, was sie tragen konnten, und metzelten alles nieder bis auf junge Männer und Frauen, die sie gefangen nahmen und als Sklaven verkauften.
Die große Liebe
Zur gleichen Zeit soll die adelige Tochter Ragna in Cherbourg, Frankreich, einen holden Edelmann heiraten. Nett, aber langweilig, so ihr Urteil über ihn – denn sie hat sich bereits in den englischen Edelmann Wilwulf verliebt, der Gast ihres Vaters ist. Sie sei seine große Liebe, schwört er – und so lässt sie sich auf ihn ein. Wird er zurückkommen und um ihre Hand anhalten? Und hoffentlich ist die Liaison ohne Folgen geblieben ... Alles in Butter – der Alderman sendet den Bruder, um einen Ehevertrag auszuhandeln, der auch versichert, die erste Ehefrau von Wilwulf sei von ihm gegangen. Die Eltern von Ragna sind nicht einverstanden, aber sie lassen sie ziehen. Derweil kümmert sich Edgars Familie um den kargen Boden ihrer Pacht und Edgar verdient sich sein Geld als Fährmann. Dreng, dem Besitzer einer Wirtschaft am Fluss lässt Reisende durch die walisische Sklavin Blod auf die andere Seite rudern, was Edgar für unwirtschaftlich hält – er schlägt vor, eine Fähre zu bauen, die einen Wagen oder mehrere Personen transportieren kann. So lernen sich Ragna und Edgar kennen.
Ragnhild, Tochter Graf Huberts von Cherbourg, saß zwischen einem englischen Mönch und einem französischen Priester. Ragna, wie sie genannt wurde, fand den Mönch interessant und den Priester aufgeblasen – aber der Priester war es, den sie für sich einnehmen sollte.
In der Burg von Cherbourg aß man zu Mittag. Der beeindruckende Wehrturm stand auf dem Hügel, der den Hafen überragte. Ragnas Vater war stolz auf das Bauwerk. Es war neuartig und ungewöhnlich. ... Er schätzte sein kriegerisches Wikingererbe, aber zufriedener machte ihn, dass die Wikinger zu Normannen geworden waren, die ihre eigene Abart des Romanischen sprachen. Vor allem jedoch war ihm wichtig, dass sie das Christentum angenommen hatten und die Kirchen und Klöster, die von ihren Ahnen gebrandschatzt worden waren, wieder aufbauten.
Die einen sind edel und gut - die anderen ruchlose Fieslinge
Ab diesem Zeitpunkt weiß der Leser: Am Ende siegt das Gute und sie werden zusammenkommen ... leider ist der Roman von Anfang an durchschaubar und bleibt um Strecken hinter «Die Säulen der Erde» zurück. Keine Frage, wir haben es mit guter Unterhaltung zu tun. Aber Gut und Böse – die Ehrsamen und die Niederträchtigen sind strickt getrennt, von Anfang an erkennbar. Schwarz und Weiß. Edgars Herz ist nicht zu brechen – denn es ist bereits gebrochen, noch immer trauert er um seine Geliebte. Ragnas Herz wird kurz nach der Hochzeit gebrochen – denn die erste Ehefrau von Wilwulf kehrt mit ihrem jugendlichen Sohn ins Heim zurück, verschwestert mit der Stiefmutter des Ehemanns. Nein, von gestorben war nie die Rede, von ihm gegangen, eine Weile, an einen anderen Ort. Nun sei sie wieder da. Ragna muss lernen, dass in England offiziell niemand eine zweite Frau haben darf – sich aber keiner drum schert. Die Bösen stehen sofort im Fokus, drei Brüder: Wynstan der Bischof, korrupt, geld- und machtgierig; Wigbert der Kämpfer, ein wenig hohl in der Birne; und Wilwulf, der jüngste, ein fescher Alderman, der zu seiner Familie hält; Vetter Dreng, ein fieser Typ. Die Guten: Ragna, die Betrogene, die im Verlauf der Handlung noch ziemlich viel einstecken muss; Edgar, der Aufrechte, fleißig und klug, der Problemlöser, er wird sich den Aufstieg erarbeiten; beider Freund und Berater Mönch Aldred, der in Shiring eine Bibliothek aufbauen will und der der Gegenpart zum korrupten Bischof ist. Steinig ist der Weg zum Glück, 1024 Seiten oder 29 Stunden Hörvergnügen – gute Unterhaltung ohne Tiefgang; am Ende nerven die nicht endenden Intrigen. Helden müssen leiden – aber man könnte die Sache hier ein wenig verkürzen; immer noch einen drauf, och nö, dachte ich, wir wissen doch, wie es ausgeht. Leider weiß man das nach dem ersten Treffen der beider Hauptprotagonisten ... Charaktere, die überzeichnete Klischees darstellen, das war megaschlecht. Der oberböse Bischof ist der wahre Teufel. Auf die Hälfte verkürzt, das hätte gelangt – zumindest die Story. Ich hätte mir stattdessen mehr historische Hintergründe gewünscht.
Auf dem Weg ins Mittelalter
Ein ein Prequel muss sich natürlich an den anderen Bänden messen. Ken Follett schwächelt hier. Als historischer Roman ist dies für mich der schlechteste Band der Serie. Eher ein Kitschroman, wenn auch ein halbwegs guter. Intrigen und noch mehr Intrigen, am Ende siegt das Gute, so kennen wir Follett. Diesmal hat es ein wenig genervt, weil der historische Hintergrund ein Hintergrund bleibt und die Story extrem durchsichtig ist, ein nerverendig druff auf die Helden. Kingsbridge und Shiring in den Anfängen – zwei fiktive Orte. Angelsachsen, England, eine Gesellschaft der Aldermänner und Kirchenführer, ein König, der Recht und Gerechtigkeit kaum durchzusetzen kann, weil er gleichzeitig von den Grafen abhängig ist. König Aethelred (978 bis 1016) - der Unberatene genannt - der während seiner Herrschaft die Dänen abwehren musste, die immer wieder die Küsten überfielen. Durch hohe Geldzahlungen, das Danegeld, versuchte er sein Land freizukaufen. Die Dänen verwüsteten 997 Cornwall, Devon, das westliche Somerset und südliche Wales, 998 Dorset, Hampshire und Sussex. 999 überfielen sie Kent. Eine bewegende Zeit, die allerdings lediglich gleich am Anfang beschrieben wird. Im Verlauf ziehen die Männer aus, um gegen die Dänen zu kämpfen – wo, wieso, warum, wird nicht erwähnt. Zeit für Intrigen, dann sind sie wieder zurück und spinnen eigene Intrigen. Emma von der Normandie war die Tochter Richards I. von der Normandie und dessen Frau Gunnora. Sie heiratete zunächst 1002 den englischen König Aethelred II. und gebar ihm Alfred sowie den späteren König Eduard (III.), den Bekenner. Auch eine sehr reizvolle Persönlichkeit, die es Wert wäre, um sie herum einen Roman zu spinnen. Sie hat hier als Bekannte von Ragna aus der Normandie einen kleinen Auftritt. Wer erwartet, etwas mehr über die englische Geschichte zu erfahren, 1024 Seiten würden dazu einladen, der wird leider wenig erfahren. Was Ken Follett schafft, ist eher atmosphärisch die Zeit wiederzugeben. Holzbauten – die Steinburgen der Normandie gab es in England zu dieser Zeit noch nicht. Ein Alderman und sein Haushalt, eine kleine Einheit; das harte Leben der einfachen Menschen, die auf Verderb und Gedeih von den hohen Herrschaften abhängig waren. Eine verlotterte Gesellschaft, in der Gewalt regierte. Wie gesagt, für mich der schwächste Band der Serie, nette Unterhaltung im Mittelmaß; mehr würde ich diesem Roman zusprechen. Wer ihn nicht liest, hat auch nichts verpasst.
Ken Follett, Autor von über zwanzig Bestsellern, wird oft als «geborener» Erzähler gefeiert. Er wurde am 5. Juni 1949 im walisischen Cardiff als erstes von drei Kindern des Ehepaares Martin und Veenie Follett geboren. Die zutiefst religiösen Folletts erlaubten ihren Kindern weder Fernsehen noch Kinobesuche und verboten ihnen sogar, Radio zu hören. Dem jungen Ken blieben zur Unterhaltung nur die unzähligen Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte – und die Abenteuer, die er sich in seiner eigenen Vorstellungswelt schuf. Schon früh lernte er lesen; er war ganz versessen auf Bücher. Im September 1970, gleich nach der Universität, trat Ken Follett mit einem dreimonatigen Journalistenkurs den Weg an, der ihn zur Schriftstellerei führte. Zuerst arbeitete er als Zeitungsreporter für das South Wales Echo in Cardiff, nach der Geburt seiner Tochter Marie-Claire 1973 als Kolumnist für die Evening News in London. Als Ken Follett sah, dass sein Traum, ein «berühmter Enthüllungsjournalist und Starreporter» zu werden, nicht in Erfüllung gehen würde, begann er, an den Abenden und Wochenenden Romane zu schreiben. 1974 verließ er die Zeitungswelt und nahm eine Stellung bei dem kleinen Londoner Verlag Everest Books an. Seine Feierabend-Schriftstellerei führte zwar zur Veröffentlichung einiger Bücher, von denen sich aber keines gut verkaufte. «Die Nadel» (Eye of the Needle, mit Donald Sutherland in der Hauptrolle verfilmt) wurde 1978 veröffentlicht und machte Follett dann doch zum Bestseller-Autor, gewann den Edgar-Award und verkaufte sich mehr als 10 Millionen Mal. Der Erfolg dieses Buches ermöglichte es Ken, seinen bisherigen Beruf aufzugeben, eine Villa im Süden Frankreichs anzumieten und sich völlig seinem nächsten Roman namens Dreifach (Triple) zu widmen. Später kehrte er nach England zurück. In den letzten 40 Jahren hat Ken Follett 30 Romane verfasst. Seine ersten fünf Bestseller waren Spionageromane: Die Nadel (1978), Dreifach (1979), Der Schlüssel zu Rebecca (The Key to Rebecca – 1980), Der Mann aus St. Petersburg (The Man from St. Petersburg – 1982) und Die Löwen (Lie Down with Lions – 1986). Auf den Schwingen des Adlers (On Wings of Eagles – 1983) ist die wahre Geschichte zweier Angestellter von Ross Perot, die während der Revolution in 1979 aus dem Iran gerettet werden. Und dann überraschte er seine Leser mit einem radikalen Genre-Wechsel: 1989 erschien Die Säulen der Erde (The Pillars of the Earth), ein Roman über den Bau einer fiktiven Kathedrale im Mittelalter; es wurde der erste Teil der Kingsbride-Serie. Das Buch führte sechs Jahre lang die deutschen Bestsellerlisten an. Die folgenden drei Romane, Nacht über den Wassern (Night Over Water – 1991), Die Pfeiler der Macht (A Dangerous Fortune – 1993) und Die Brücken der Freiheit (A Place Called Freedom – 1995), waren eher historische Romane als Thriller. Mit dem Roman Der dritte Zwilling (The Third Twin – 1996) kehrte er jedoch wieder ins Thriller-Genre zurück. Die Kinder von Eden (The Hammer of Eden – 1998) war wieder ein Kriminalroman, der in der Gegenwart angesiedelt ist, gefolgt von Das zweite Gedächtnis (Code to Zero – 2000), einem Thriller, der zur Zeit des Kalten Krieges spielt. Für die beiden anschließenden Romane wählte Ken wieder den 2. Weltkrieg als Hintergrund: Die Leopardin (Jackdaws – 2001) ist die Geschichte einer Gruppe von Frauen, die an Fallschirmen über dem besetzten Frankreich abspringen, um ein strategisch wichtiges Fernmeldeamt zu zerstören (der Roman gewann 2003 den begehrten Corine-Preis); Es folgten Mitternachtsfalken (Hornet Flight – 2002), Eisfieber (Whiteout – 2004). Die Tore der Welt (World Without End – 2007) ist die lang erwartete Fortsetzung zu Die Säulen der Erde. In diesem Roman kehrt Ken zweihundert Jahre später nach Kingsbridge zurück und berichtet von den Nachkommen der Figuren. Es folgte die «Jahrhundert-Saga»: Sturz der Titanen (Fall of Giants, 2010), Winter der Welt (Winter of the World, 2012), Kinder der Freiheit (Edge of Eternity), die das Schicksal von fünf Familien über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer beschreibt. Die großen Freuden in Folletts Leben, abgesehen von den ihm nahe stehenden Menschen, sind gutes Essen und Wein, Shakespeare und Musik. 2007 verlieh ihm die University of Glamorgan die Ehrendoktorwürde in Literatur und die Saginaw Valley State University in Michigan einen ähnlichen Titel; dort gibt es auch ein eigenes «Ken-Follett-Archive», wo seine Unterlagen aufbewahrt werden. 2008 schloss sich die University of Exeter an.
Gesprochen von: Tobias Kluckert
Serie: Kingsbridge-Serie
Übersetzt aus dem Englischen von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 28 Std. und 59 Min.
Historischer Roman, Prequel, England, englische Literatur, König Aethelred, Danegeld, Emma von der Normandie
Lübbe Audio, Audible, 2020
Lübbe Verlag, 2020, Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband, 1024 Seiten
Historische Romane und Sachbücher
Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter. Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz. Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.Historische Romane
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