Rezension
von Sabine Ibing
Demon Copperhead
von Barbara Kingsolver
Gesprochen von Fabian Busch
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 20 Std. und 39 Min.
Ein Kind zu sein ist was Schreckliches: Man ist ausgeliefert. Wenn man es dann irgendwann hinter sich hat, vergisst man das ganze Elend am besten und macht sich und der Welt vor, das man schon schon immer gewusst hat, was zu tun war. Vorausgesetzt, man hat irgendwas geschafft, auf das man stolz ist. Wenn nicht, ist es leichter, alles zu vergessen. Punkt. Das hier soll die dritte Option werden, nicht stolz, nicht vergesslich. Nicht leicht.
Ein Trailer in den Wäldern Virginias. Das Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der «Hillbilly-Cadillac»-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups, aufgegeben von sämtlichen Superhelden und dem Rest der Nation. Hier kommt Demon Copperhead zur Welt. Seine Teenie-Mutter ist frisch auf Entzug, der Vater tot. Ein starker Charakter mit großer Klappe und einem zähen Überlebenswillen schlägt sich durch: Er lebt in Armut mit einer Junkie-Mutter, ein gewalttätiger Stiefvater kommt dazu, es folgen Pflegefamilien mit Gewalt, Missbrauch, Kinderarbeit. Aufwärts geht es mit Comic zeichen, Football; weiter geht es mit Drogensucht durch Oxi und Meth, erste Liebe und unermesslicher Verlust.
Kein Zuckerschlecken
Ein älterer Junge, der nie Geborgenheit erfahren hatte, versuchte, uns Geborgenheit zu geben. Wir hatten den Mond, der uns eine Weile durchs Fenster zulächelte und sagte, dass die Welt uns gehörte. Weil die Erwachsenen irgendwohin gegangen waren und alles in unsere Hände gegeben hatten.
Demons Mutter schlägt sich und das Baby mit einem Job im Supermarkt durch. Ihr Trailer steht auf dem Gelände der Familie Peggot, mit deren vielen Kindern Demon aufwächst und irgendwie wird er immer ein wenig ein Peggot bleiben, deren Tür für ihn immer offen steht. Eines Tages schleppt die Mutter diesen LKW-Fahrer an, der gutes Geld verdient. Ein brutaler Bursche, vor dem man sich in Acht nehmen muss – und sie heiraten. Die Mutter stirbt an einer Überdosis, als Demon elf ist. Es folgen Pflegefamilien, kein Zuckerschlecken. Und Demon entsinnt sich, dass er doch eine Großmutter haben muss. Sein Vater wird doch eine Mutter gehabt haben! Und richtig! Eine Frau, die Kinder aufnimmt oder sie in gute Pflegefamilien weiterverteilt. Durch die Granny kommt Deamon zu Coach Winfield in einen anständigen Haushalt und er wird in die Footballmannschaft integriert, wird bald ein Star. Comiczeichnen war schon immer sein Ding – dafür entwickelt er viel Talent, eine Lehrerin fördert den intelligenten Jungen. Nach einer Verletzung kommt er mit Oxi in Berührung, was eine Opioidsucht und Drogenkriminalität auslöst. Rings um ihn bricht alles zusammen,
Sie leben ihren eigenen Rhythmus
Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.
Charles Dickens' «David Copperfield» ist hier bewusst in die Gegenwart versetzt. Nirgendwo gibt es so viel Crystal Meth-Labore und Drogenabhängige wie in dieser tristen Einöde des American Rust. Was soll man denn sonst in seiner Freizeit machen, außer abzuhängen? Die Arbeitslosigkeit ist groß. Rednecks, so werden sie genannt, die Farmer und Arbeiter auf dem Land. Barbara Kingsolver klagt am Ende an: Die Regierungen sind zusammengesetzt aus Menschen mit sehr dicken Geldbeuteln, es sind meist Städter, die auf Eliteuniversitäten studiert haben, nicht wissen, wie es dem normalen Volk geht. Und sie haben auch kein Interesse, diese Leute zu vertreten, weil sie kaum Steuern zahlen. Auf dem Land hat fast jeder seinen Gemüsegarten, Fleisch holt man sich aus dem Wald und aus den Flüssen. Nachbarn helfen sich gegenseitig und es herrscht ein großer Tauschhandel. Hier lebt man miteinander und unterstützt sich gegenseitig; sie leben ihren eigenen Rhythmus, Politiker haben wenig Einfluss. In Washington haben sie darum keine Lobby. In einem anderen Buch las ich kürzlich, warum die Leute lange arbeitslos sind, wenn eine große Fabrik, ein Bergwerk geschlossen wird. Hier wird gesagt, man hat damals eben nur diese eine Fabrik, dieses eine Bergwerk gebaut, keine Infrastruktur entwickelt, damit die Leute abhängig waren von einem Arbeitgeber, der die Löhne so bestimmen konnte. Und dann kommt ein Trump, der sagt, er hat sie alle lieb und wird etwas für sie tun …
Wundervoll in seiner Sprache und Ausdruckskraft
Wir hatten den Mond, der uns eine Weile durchs Fenster zulächelt und sagte, dass die Welt uns gehörte. Weil die Erwachsenen irgendwohin gegangen waren und alles in unsere Hände gegeben hatten.
Demon, ein Held, der von einem zum nächsten gereicht wird … nimmer gehts schlimmer, denkt man am Anfang. Die «Urfamilie», die Peggots, geben ihm immer wieder ein wenig Halt und Zuversicht. Und irgendwann hat er Glück, landet beim Footballcoach, der für ihn so etwas wie ein Vater wird, seine Tochter so etwas wie eine Schwester. Durch eine Verletzung gerät Demon an Oxi und bekommt die Sucht nicht in den Griff, driftet immer weiter ab. «Hauptsache, noch am Leben» – so seine Devise. Gut beschrieben wird hier, was das Medikament mit seiner Sucht mit den Menschen anstellt, die Opioid-Krise ist prima dargestellt. Es ist seine Geschichte, frei erzählt, unbekümmert, vorwitzig, von übersprudelnder Lebenskraft, ein Leben gleich einem Höllenritt – letztendlich steckt dahinter ein Gesellschaftsroman, ein Bildungsroman. Wundervoll in seiner Sprache und Ausdruckskraft. 2023 erhielt Barbara Kingsolver gemeinsam mit Hernan Diaz (für seinen Roman «Treue») den Pulitzer Prize for Fiction für ihren Roman «Demon Copperhead».

Demon Copperhead
Gesprochen von Fabian Busch
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 20 Std. und 39 Min.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Dirk van Gunsteren
Bildungsroman, Gesellschaftsroman, American Rust, Amerikanische Literatur
Argon Verlag, 2024
dtv Verlag, 2024, 864 Seiten
Zeitgenössische Literatur

Zeitgenössische Roman
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