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Das System von Ryan Gattis - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Das System 


von Ryan Gattis


Der erste Satz:   

In den Vereinigten Staaten bezieht sich der Begriff Strafjustizsystem auf jene Institutionen, die ein angeklagter Straftäter durchläuft, die ein angeklagter Straftäter durchlaufen muss, bis die Anklage entweder fallengelassen oder bewiesen und eine Strafe festgesetzt und verbüßt wird.


Ryan Gattis ist wieder ein großer Wurf gelungen! Er ist ein großartiger Autor in der Noirliteratur, des Ganster-Crime. Genau das ist auch dieser Thriller, aber weit mehr, er ist gleichzeitig ein Gerichtsthriller. Zwölf Ich-Erzähler, zwölf Perspektiven: Beteiligte, Zeugen, Hineingezogene, ein Polizist, eine Staatsanwältin, ein Bewährungshelfer, Strafverteidiger. Drei Systeme, die zu einem zusammenwachsen: die Gesetze Straße, das Rechtssystem, der Knast. Ein Buch, das unter die Haut geht! 


Ein Mordversuch

Während du in Untersuchungshaft bist, gehört dir dein Körper nicht. Er gehört dem County. Alles notwendige kommt vom County. Dein Essen. Deine Zahnpasta. Sogar deine Kleidung.


Am 6. Dezember 1993, Los Angeles, in der Vorweihnachtszeit, hat Junkie Augie einen Turky, er braucht Stoff. In seiner Not klingelt er bei seiner Dealerin Scrappy. Die ist stinksauer, weil er zu ihr nach Hause kommt, weist ihn ab. Als er anfängt, ihre Rollladen auseinanderzunehmen, kommt sie vor die Tür, gibt ihm ein kleines Päckchen Age für ein paar Dollar. Er wankt davon, hört jemand ihren Namen rufen. Dann sieht er sich um, erblickt Wizard und noch irgendeinen Typen. Wizard schießt auf Scrappy. Die Täter fahren in Ruhe in einem Auto davon. Augie denkt, vielleicht hat sie Stoff in der Tasche, geht zu Scrappy, die noch lebt. Als ehemaliger Navy-Sanitäter der Army weiß er, was zu tun ist. Erstversorgung – er rettet ihr das Leben, ruft auch den Notarzt. Dann versorgt er sich selbst, steckt die Drogen ein und die Knarre, die man verticken kann, macht sich von dannen.


Der Zeuge

Organisierte Gefängnisgangs versuchten, obwohl hinter Gittern, die Aktivitäten der Straßengangs zu steuern, und je erfolgreicher sie waren, desto mehr ging die Macht von den Straßen auf die Untersuchungsgefängnisse und Haftanstalten über. ... Wenn sie das Milieu hinter Gittern kontrollieren konnten – der schlimmstmögliche Auswuchs kriminellen Verhaltens –, dann konnten sie praktisch jeden kontrollieren, überall.


Phillip Petrillo ist Polizist und Bewährungshelfer und er will seinen Klienten Augie wegen Verletzung der Bewährungsauflagen einbuchten. Doch Augie macht ein Angebot, er will aussagen, was er gesehen hat, wenn Petrillo ihn laufen lässt. Als der Name Wizard fällt, horcht Petrillo auf – der Freund von Dreamer. Der ist mit der hübschen Angela leiert, die Petrillo gern zur Freundin hätte. Der Deal: Augie bleibt frei, aber er muss aussagen, Wizard und Dreamer gesehen zu haben. Und Petrillo schafft es, die Tatwaffe in der Wohnung von Angela zu platzieren, in der auch Dreamer wohnt. Wizard und Dreamer werden verhaftet, kommen in Untersuchungshaft. Der siebzehnjährige Dreamer hat keine Vorstrafen, hat sich bis dato aus Gangangelegenheiten herausgehalten. Der Knast hat sein eigenes brutales System. Kann Wizard Dreamer schützen?


Der Sound der Gangs, völlig authentisch

Der Thriller durchläuft das Rechtssystem bis zur Verhandlung, bis zum Urteil. Aber auch die Gang bleibt währenddessen nicht untätig. Das System geht seinen Weg. Und jeder, der dazugehört, ist gefangen in seine Regeln. Das System hilft dir, wenn du dich dran hältst. Gattis interviewte sechs Jahre lang LASD-Detectives, Bewährungshelfer, Pflichtverteidiger und Staatsanwälte, sprach mit Gangmitgliedern, besuchte mehrere Gefängnisse, machte sich mit Gefühlen und Gedanken der Menschen vertraut. Gattis versetzt sich tief ins Milieu und durchleuchtet das Gesetz der Straße: rivalisierende Banden, ethnische Unvereinbarkeiten, Rassenhass untereinander, Abhängigkeiten, bis hin zu verschiedenen Essenskulturen. Und er spricht den Sound der Gangs, völlig authentisch, teils anstrengend zu lesen, aber grandiose Dialoge. Das Beste bei Rayen Gattis sind seine Figuren. Sie sind Menschen, nicht einfach Gangster oder Polizisten. Er geht tief in die Figuren hinein, blättert sie überzeugend auf, jede Figur hat ihre eigene Sprache. Das ist großes Kino. Ein amerikanischer Autor, der sich weder Herofiguren, noch irgendwelcher üblichen Schreibmuster bedient. Das ist erfrischend. Man weiß nie, wie sich die Story entwickeln wird, wie es ausgeht. Gattis ist nichts für Zartbesaitete, er schreibt in der Realität der Gangs und das ist grausam-gut. Manche Worte sind kursiv geschrieben – man findet am Ende ein langes Glossar.


Ryan Gattis, geboren 1987 in Illinois, lebt in Los Angeles. Sein Roman „In den Straßen die Wut“ war eine internationale Sensation und wird von HBO als TV-Serie adaptiert werden. Die Filmrechte von „Safe“ sind bereits von der 20th Century Fox optioniert.


Weitere Rezensionen zu Romanen von Ryan Gattis:

Safe von Ryan Gattis
In den Straßen die Wut von Ryan Gattis


Ryan Gattis 
Das System
Thriller, Gerichtsthriller, Noir, Gangster
Originaltitel: The System, 2020
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ingo Herzke und Michael Kellner
Gebunden, 544 Seiten
Rowohlt Verlag, 2021





Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
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