Direkt zum Hauptbereich

Das ist Lust von Mary Gaitskill - Rezension

Rezension

Sabine Ibing



Das ist Lust 


von Mary Gaitskill


Der erste Satz: 

Ich kannte Quin seit vielleicht fünf Jahren, als er mir diese Geschichte - eigentlich eher eine Anekdote als eine Geschichte über eine Frau erzählte, die er auf der Straße getroffen hatte.


Der gefeierte Lektor Quin wird durch Vorwürfe von Mitarbeiterinnen öffentlich zu Fall gebracht, da Caitlin den Stein ins Rollen bringt, andere Frauen damit dazu bringt, ebenfalls gegen ihn wegen sexueller Belästigung auszusagen. Margot kennt Quin seit zwanzig Jahren und auch ihr griff er bei einem ihrer ersten Treffen zwischen die Beine. Ein Aufschrei, Abwehrhaltung, STOPP! Ihre Entschlossenheit imponierte ihm - und sie genoss nach wie vor die Aufmerksamkeit des schillernden Salonlöwen, eine Freundschaft entstand. Margot berichtet über Quin, sein übergriffiges Verhalten, erzählt von Situationen im Verlag. Eine Angestellte lud er zum Shoppen ein und befummelte ihre Brüste wegen der Größenauswahl, bevor er ihr ein T-Shirt kaufte. Margots Berichte sind neutral, wirken fast protokollarisch. Quin denkt sich nichts dabei, doch sein Verhalten gegenüber Frauen ist oft inkorrekt – einerseits, andererseits versucht Margot das Handeln des Freundes zu verstehen. 


Ihre Stimme hat viel mehr Kraft als damals! Sie haben so viel mehr Kraft! Sie sprechen direkt aus der Klitoris!› Und - als wäre es die natürlichste Sache der Welt - fasste er mir zwischen die Beine.


Die andere Erzählstimme gehört Quin, der völlig perplex den Anschuldigungen entgegensteht. Niemals habe er eine Frau sexuell belästigt oder gar Sex mit ihr gehabt. Im Gegenteil, die Frauen kamen ständig mit ihren Sorgen zu ihm, holten sich Rat. Nie hat sich eine beschwert! M – Q – M – Q ... die Kapitel wechseln wie der Ball in einem Tennismatch. Opfer und Täter haben eine andere Wahrnehmung. Dieser Mann spielt mit Frauen, nutzt seine Machtposition eindeutig aus, bis an die Grenzen und darüber hinaus. Dominanz per Lizenz – weil er ein Mann ist und weil es schon immer so war, Frauen kleinzuhalten. Diese ständig wechselnde Sichtweise zwingt auch den Leser, immer wieder sich auf eine andere Position einzulassen. Patriarchale Machtverhältnisse kippen heute, Opfer trauen sich, ihre Stimme zu erheben. 


Er war nicht schön, vermittelte aber einen überraschenden Eindruck von Schönheit - bis er unmerklich den Unterkiefer vorschob, seine Lippen leicht öffnete und seine Unterzähnen hervor blitzen. Dann wirkte sein zusammengekniffenes Insektengesicht sonderbar raubtierhafte, so fast als hätte es Mandibeln.


Quin ist verbal übergriffig. Z.B. befragt er alle Kolleginnen nach ihren Masturbationsfantasien. Enger Körperkontakt, ein Schnüffeln im Haar, ein Streichen über die Schulter, ein kurzes Berühren des Knies, unangemessene Fragen. Margot bestätigt, Quin ist an sich kein schlechter Mensch, sie ist mit ihm befreundet, und doch hat er eine unangenehme Seite für Frauen – für die eine mehr, die andere weniger. Quin selbst betrachtet sich als Charmeur, als Frauenversteher, als Wohltäter für die Frauen, weil er immer behilflich ist und ein offenes Ohr hat für Sorgen. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie, hat sich immer in der Oberschicht bewegt, legt ein Verhalten an den Tag, das sich über Jahrhunderte gefestigt hat – wo ist hier das Problem?, überlegt er sich. Er fragt seine Frau, der er erklärt, er habe noch nie Sex außerhalb der Ehe gehabt, er versteht die Aufregung nicht. 


Du bist nicht mal ein Weiberheld›, sagte sie leise. ‹Nicht einmal das. Du bist ein Spinner. Ein anzüglicher, übergriffiger, doppelbödiger Spinner. Das ist das eigentlich Unerträgliche daran.


Der Skandal ist gemacht, der schlüpfrige Quin verliert seinen Job. Juristisch kann man ihm wahrscheinlich kein Fehlverhalten vorwerfen. Margot beschreibt taffe Frauen, aber auch die, welche sich unterwürfig alles bieten lassen. Ist hier der Fehler im System? Ist Quinlan M. Saunders ein übergriffiges Monster? Eine Geschichte vor Ambivalenzen. Der Leser wird hin und hergerissen, jeder muss für sich selbst Position beziehen. Mary Gaitskill schreibt erfrischend und eindringlich, hat geschickt dieses Gegenspiel entwickelt, bei dem Margot ihre neutrale Position nie verlässt, beobachtend. Es ist, wie es ist, Sexismus – wir müssen drüber reden ...


Es ist alles so schrecklich und absurd. Absurd, dass ich bestimmte Dinge getan habe, ja. Absurd aber auch, dass Caitlin eine Stelle hat, die ich ihr verschafft habe, und dass sie mir von dieser Stelle aus Dinge vorwirft, bei denen sie selbst mitgemacht hat. Noch absurder ist, dass man sie dafür ‹mutig› nennt.


Mary Gaitskill, geboren 1955 in Detroit, verdiente ihr Geld als Stripteasetänzerin, Blumenverkäuferin, Sekretärin, Model und Buchhändlerin. Während des Studiums begann sie mit dem Schreiben. Seit ihrem Debüt »Bad Behavior« (1988) lotet sie die Ambiguität menschlicher Gefühle und Beziehungen aus wie sonst kaum jemand. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und war u. a. Finalistin für den National Book Award. Sie lebt in New York.



Mary Gaitskill 
Das ist Lust
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Daniel Schreiber
Roman, amerikanische Literatur, #MeToo-Debatte
Gebunden, 128 Seiten
Blumenbar, Aufbau Verlag, 2021



Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

  In dem Land, in dem Tobias lebt, sind endlich wieder bessere Zeiten eingekehrt, und alle Kinder sollen zur Erholung die Sommerferien auf dem Land verbringen. Doch statt zu zweit oder zu dritt auf einem idyllischen Bauernhof, landet der 11-jährige Tobias allein auf einer Insel weit draußen im Meer, wo er bei einer menschenscheuen Frau namens Lothe unterkommt. Lothe wollte kein Ferienkind haben, man hat ihr Tobias aufgedrückt – was die mürrische Frau ihn spüren lässt. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, Menschen und Handeln zu verstehen; Freundschaft, Kriegstraumata, vom Dunkel ins Licht gehen … Allage, Jugendbuch ab 12 Jahren. Weiter zur Rezension:    Die Windmacherin: Eine Sommergeschichte von Maja Lunde und Lisa Aisato

Rezension - Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler

  Mischa und Nits sind beste Freunde. Mischa liebt die Poems von Nits. Und der bewundert Mischa, weil er schlau ist und ein wandelndes Lexikon über Tiere zu sein scheint. Lügen geht gar nicht, so Nits Überzeugung. Darum fragt er sich, warum Mischa dem Lehrer weismachen will, er hätte eine Chlorallergie, als der Schwimmunterricht beginnt – Nits erzählt er, die Badehose sei von Mäusen angefressen worden. Überhaupt scheint Mischa in Schwierigkeiten zu stecken – doch wohl eher sein Vater ... Nits betritt in dieser Familie plötzlich eine völlig andere Welt – die der Armut. Aber das ist ein Unterthema – Mischas Vater ist untergetaucht; Mischa und Nits werden ihn nicht im Stich lassen – aber das könnte gefährlich werden ... Spannung, Humor und ein wenig Tragik machen das Buch zu einem Leseerlebnis. Meine Empfehlung ab 11 Jahren für diesen exzellenten Kinderroman.  Weiter zur Rezension:    Feuerwanzen lügen nicht von Stefanie Höfler 

Rezension - Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Die spannenden Kurzgeschichten, gespickt mit ein wenig Seemannsgarn haben eins gemeinsam: Hier geht es um Segelschiffe, um Dreimaster. Wir tauchen ein in eine Zeit der rauen Seefahrt. Spannend und atmosphärisch, ein wenig Humor und Seemannsgarn – Kurzgeeschichten über Schiffe und Menschen, die zur See fahren. Meine Empfehlung für den Klassiker mit ausgewählten Erzählungen von Elinor Mordaunt! Weiter zur Rezension:    Das Herz eines Schiffes von Elinor Mordaunt

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Devil’s Kitchen von Candice Fox

  Die Feuerwehrleute von «Engine 99» gelten als die Besten in New York – mutig, unerschrocken, verehrt. Was niemand ahnt: Sie sind parallel eine beinharte Gang, denn sie legen Brände, um im Chaos Vorbereitungen zu treffen, um später Banken und Juweliere auszurauben. Das könnte immer so weiterlaufen, wenn Bens Lebenspartnerin Luna und ihr Sohn nicht verschollen wären und er seine Kumpel nicht im Verdacht hätte, sie getötet und verscharrt zu haben. Er will es wissen! Und dafür ist er bereit, die Bande auffliegen zu lassen, sich selbst ans Messer zu liefern. Er bietet dem FBI an, wenn sie «seine Familie» finden, herausfinden, was mit Frau und Kind passiert ist, wer verantwortlich ist, dann packt er aus. Und so wird die freiberufliche Ermittlerin Andrea Nearland auf die Truppe angesetzt. Blockbuster – Spannung, die niemals abfällt! Klasse Thriller! Weiter zur Rezension:    Devil’s Kitchen von Candice Fox

Rezension - Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein

  Lauenstein und Gottschall laden wieder dazu ein, die Vielfalt und Hochwertigkeit der regionalen italienischen Küche zu entdecken. Eine Reise durch Italien mit Fotos von Landschaften und Menschen, von hervorragenden Rezepten. Die Frühjahrs-Sommerküche überzeugt durch die Qualität der Zutaten, denn das ist der Grundstock des Geschmacks. 70 Rezepte zu saisonalen Besonderheiten, Ursprüngen, Küchengeschichten, italienische Kultur und Feste – saisonale Schätze und Spezialitäten spielen zu bestimmten Anlässen eine große Rolle. Wieder ein sehr gutes Kochbuch, das Liebhaber der italienischen Küche im Regal stehen haben sollten. Weiter zur Rezension:    Splendido. Primavera/Estate: Italienische Küche für Frühling und Sommer von Juri Gottschall und Mercedes Lauenstein 

Rezension - Die Familie von Sara Mesa

  In dieser Familie gibt es keine Geheimnisse, darauf bestehen Vater und Mutter, scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie: Vater, Mutter, zwei Söhne, zwei Töchter. Aber alle spielen Theater, verstellen sich, verschweigen, erfinden kleine Lügen. Sara Mesas Erkundung des Mikrokosmos einer Familie ist unerbittlich, beklemmend genau. Letztendlich haben wir hier eine Ansammlung von Kurzgeschichten zu den verschiedenen Familienmitgliedern, die in der Gesamtheit diese Familie widerspiegeln. Ein perfides Spiel, das diese Eltern hier betreiben. Die Familie klebt an die, tief in deiner Seele – fein beobachtet, sarkastisch, satirisch, beste spanische Literatur. Weiter zur Rezension:    Die Familie von Sara Mesa

Rezension - Die Witwe von Helene Flood

  Gesprochen von Cornelia Tillmanns Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 10 Std. und 41 Min. Eine gutbürgerliche Nachbarschaft in Oslo, Evy ruft ihrem Mann nach: «Fahr vorsichtig!» Wenige Minuten später erleidet Erling wieder einen Fahrradunfall und stirbt im Krankenhaus. Ein Herzinfarkt? Zurück bleiben Evy, mit der er seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war und seine drei Kinder. Der Unfall lässt Fragen offen, denn wo sind die Herzmedikamente, sein Terminkalender, und wo ist sein Fahrrad? Die Polizei ermittelt, da Erling ohne diese Dinge aufgefunden wurde. Ein Testament schockiert die Familie: Erling hat kurz vor seinem Tod fast sämtliches Bargeld in Immobilien investiert. Evy ist die Alleinerbin. Sie erfährt von Erlings Freund, dass Erling der Meinung war, jemand wolle ihn umbringen – wahrscheinlich eins seiner geldgierigen Kinder. Und darum sei auch Evy in Gefahr. Ein Kriminalroman, der unaufgeregt bis zur letzten Seite dahinplätschert, sich mit den Inneneinsichten von Evy befasst...

Rezension - Irrfahrt von Toine Heijmans

  Donald, der Skipper befindet sich mit seiner sieben Jahre alte Tochter auf einen Segeltörn. In zwei Tagen wollen sie von Dänemark bis in die Niederlande segeln. Doch in der Nacht schlägt das Wetter um, es wird Sturm geben. Der Vater meint, die Tochter schliefe in der Kajüte. Doch dann ist sie nicht dort – sie kann nur über Bord gefallen sein. Weiter zur Rezension:    Irrfahrt von Toine Heijmans