Rezension
von Sabine Ibing
Camanchaca
von Diego Zúñiga
Der Anfang:
Papas erstes Auto war ein Ford Fairlane, Baujahr 1971, den ihm mein Großvater zu seinem fünfzehnten Geburtstag schenkte.
Das zweite war ein Honda Accord, Baujahr 1985, bleifarben.
Das dritte war ein BMW 850i, marineblau, Baujahr 1990, mit dem er meinen Onkel Neno tötete.
Camanchaca nennt man den Nebel, der in Chile, vom Meer heraufzieht. Es ist die Geschichte eines namenlosen jungen Mannes, der mit seinem Vater auf einem Roadtrip von Chile in eine Grenzstadt in Peru unterwegs ist. In der Novelle wechselt er seine Erzählung in Fragmenten zwischen seiner Kindheit und dem Jetzt hin und her, bis die Familiengeschichte in diversen Enthüllungen zusammenläuft – im Ungesagten, im Nebel. Es wird viel angedeutet, ohne die Geschichte auszuerzählen. Und genau das ist die Stärke des kleinen Romans, der im Format knapp unter DIN A5 mit 120 Seiten daherkommt; die Essenz auf ein bis zwei Seiten, halben Seiten, bis zum nächsten Gedankenstrang.
Meine Mutter hat alle Zähne verloren. Sie musste sich eine Prothese einsetzen lassen. Manchmal geht sie in die Küche und macht eine Schublade auf, wo sie die Spezial-Creme aufhebt, und dann dreht sie sich weg und richtet sich das obere Gebiss. ... Den unteren Teil benutzt sie nicht.
Der junge Mann ist Student, lebt allein mit seiner Mutter, studiert in Santiago de Chile. Der Vater hatte die Familie vor Jahren verlassen, als der Junge noch klein war – für eine junge Frau, mit der er zwei Kinder hat. Der Student lebt mit seiner Mutter in bitterer Armut, beide sind übergewichtig, der Mutter fehlen bereits alle Zähne. Damit dem Jungen nicht auch die Zähne ausfallen, fährt der Vater mit ihm nach Peru zum Zahnarzt, auch zum Einkleiden für das neue Studienjahr. In Peru ist alles wesentlich billiger. Dem Vater geht es gut, er besitzt eine Firma, fährt einen teuren Wagen, auch die jüngeren Kinder sind mit Statussymbolen ausgestattet. Der Vater gibt aber immer an, er habe selbst kein Geld. Schon als der Junge studieren wollte, meinte er, das könne er nicht finanzieren. Drum bewarb er sich auf Stipendien: «Zum Glück bekam ich sie alle.»
Der Tod von Onkel Neno ist ein zentrales Thema, das immer wieder angesprochen wird – verschiedene angedeutete Versionen verschwinden im Nebel. Der Junge versucht, mit seinem Vater zu sprechen, hat das Gefühl, der würde ihm jetzt zuhören. Doch der redet stundenlang nur über sich selbst. Gedankenfragmente an das, was war - Szenen im Jetzt. Die Gedanken des Kindes damals, unschuldig und offen, der die Trennung der Eltern nicht verstand – der Student, ein junger Mann heut, der schwere Jahre in Armut erlebte, auch ein Missbrauch wird angedeutet. Die Ferien beim schroffen Großvater – warum will die Mutter nicht in das Haus zurückkehren? Und was geschah damals, als die Mutter den Vater heiratete? Viele Fragen bleiben für den Jungen offen, auch für den Leser; Andeutungen, angedeutete Gefühle. Eine dichte Novelle über einen jungen Mann, der Gefühle ausklammert, weil Gefühle verletzen können. Eine Geschichte, die berührt, den Leser auf eine Gedankenreise schickt.
Diego Zúñiga, 1987 in Iquique, Chile, geboren, ist Journalist und Autor von zwei Romanen. Er wurde mit dem Juegos Literarios Gabriela Mistral und dem Chilean National Book and Reading Council Award ausgezeichnet. 2017 wurde er in die Liste der 39 besten lateinamerikanischen Schriftsteller unter 40 Jahren aufgenommen, 2021 in «Granta 155: Best of Young Spanish-Language Novelists 2». Er lebt in Santiago de Chile.
Camanchaca
Aus dem Spanischen von Luise von Berenberg
Chilenische Literatur, Roadmovie, Zeitgenössische Literatur
Halbleinen, fadengeheftet, 134 × 200 mm, 120 Seiten
Berenberg Verlag, 2022
Zeitgenössische Literatur
Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …Zeitgenössische Romane
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