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Caledonian Road von Andrew O´Hagan - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing

 



Caledonian Road 


von Andrew O´Hagan

Gesprochen von Maximilian Laprell
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 24 Std. und 57 Min.


 

Idealismus. Das ist ein Leiden, findest du nicht? Man kann Menschen damit wehtun. In seiner Jugend habe ich mir oft gesagt, dass jemand, der die Kunst dermaßen liebte, es nicht leicht haben würde, sich im normalen Leben zurechtzufinden.


London, Donnerstag, 20. Mai 2021, die Temperatur beträgt 16 Grad, es ist heiter, später gibt es Schauer, als Campbell Flynn, 52 Jahre alt und auf der Höhe seines Ruhms als öffentlicher Intellektueller, an diesem Tag aus dem Taxi steigt, noch in Gedanken an ein neues publizistisches Projekt. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend zählt er heute zur Elite des Vereinigten Königreichs: seine Frau, die Tochter einer Gräfin; sein bester Freund seit Studienzeiten, ein Industrieller; sein Schwager, ein Politiker mit Einfluss; sein Leben getaktet von Vorträgen, Vernissagen und Society-Events. Seine Schwäche, seine Eitelkeit und der Umgang mit dem lieben Geld. Sein Widersacher: sein liebster Schüler.


Der Professor steht im Zentrum der Ereignisse

Ein spannendes britisches Gesellschaftsporträt, das im London unserer Zeit spielt, Zeitgeschichte pur, der Aufstieg und Niederfall der russischen Oligarchen inklusive, Brexit, arrogante Oberschicht, das Los der Einwanderer – hier findet alles zusammen, was Großbritannien gesellschaftlich die letzten Jahrzehnte durchlebte. Die Caledonian Road, auf ihr kann man auf- oder absteigen; auf der einen Seite wohnen die Stinkreichen, auf der anderen Seite der langen Straße wird es von Hausnummer zu Hausnummer ärmer. Campbell Flynn hat’s geschafft. Aus armen Verhältnissen stammend ist er zum Professor für Kunst aufgestiegen, verheiratet mit eine Psychotherapeutin aus adligem Geschlecht. Mit seiner  Vermeer-Biografie feiert er großen Erfolg. Und nun schwebt ihm ein persönliches Buch vor, das aber auf keinen Fall unter seinem Namen erscheinen darf: «Männer, die in Autos weinen». Er wird einen Schauspieler engagieren, der offiziell als Autor auftreten soll. Mit seinem schwarzen Studenten Milo Mangasha baut er so etwas wie eine Freundschaft auf, die von seiner Frau argwöhnisch beäugt wird. Was hat der junge Hacker wirklich vor, der sich an den Professor klemmt und immer mehr Einfluss auf ihn nimmt?


Alles bricht zusammen

Im Laufe eines aufsehenerregenden Jahres wird ein Netz von Verbrechen, Geheimnissen und Skandalen aufgedeckt, zu dem auch der beste Freund Campbell Flynns zählt, ein Kaufhausmillionär, der wegen einer Anklage wegen sexueller Belästigung, mit einem folgenden Me too, ins gesellschaftliche Abseits rutscht. Campbells Schwager, ein Politiker, fliegt auf wegen Korruption mit russischen Oligarchen. Ein Strang der Geschichte ist den Russen gewidmet, die mit illegalen Geschäften sich langsam hocharbeiten und reich werden, sich danach sehnen, von der oberen Gesellschaft anerkannt zu werden. Ob man stinkreich ist, Millionen spendet, dass interessiert nämlich nicht, solange man kein blaues Blut in den Adern fließen hat. Aber auch der illegale Einwanderer bekommt seinen Platz in der Geschichte. 


Monumentaler Gesellschaftsroman


‹Und was hast du heute so vor?›, fragte sie. ‹Blockiert ihr ein paar Autobahnen? Stürmt ihr das Parlament? Es muss furchtbar anstrengend sein, Schatz. Wie Germinal, nur mit Hafermilch und Hanfpantoffeln.›


Campbell kauft sich mit seiner Frau ein Haus, inklusive einer Mieterin in der unteren Wohnung des Zweifamilienhauses. Nur, die hat es in sich! Sie verklagt die Flynns am laufenden Band, weil sie die Wohnung nicht renovieren – doch wenn die Handwerker kommen, lässt sie diese nicht herein. Ein Spiel, dass die Flynns in den Wahnsinn treibt. Der Sohn, ein bekannter DJ, die Tochter ein Model, haben den Eltern irgendwann finanziell einiges voraus. Campbell Flynn ist das Drehkreuz dieses monumentalen Gesellschaftsromans, der seine Fühler in zwielichtige Fabriken wie in vornehme Gemächer der arroganten Oberschicht ausstreckt, ebenso in die Köpfe illegaler Immigranten wie in die Häupter ausbeuterischer Kapitalisten und korrupter Parlamentarier schaut. Campbell Flynn steht für den Inbegriff des liberalen, gebildeten weißen Mannes. Und er wird fallen wie die Ära, die er verkörpert. Zusätzlich gibt es kunstgeschichtliche und literarische Ausflüge und Diskussionen. Cancel Culture, Gender bis hin zu Brexit, Corona, Ukrainekrieg, illegale Einwanderung, Kolonialschuld und kulturelle Aneignung, zu kriminellen Banden, Drogen; hier ist jeder explosive Stoff enthalten, den die Gesellschaft heute ausmacht. Ein weitumfassendes Werk, grandios, dies alles einzubinden, ohne, dass es zusammengeschustert wirkt. Spannend mit schwarzem Humor geschrieben, ein Gesellschaftsporträt, das es in sich hat – sollte man unbedingt lesen oder hören.


Andrew O’Hagan wurde in Glasgow geboren. Er wurde von Granta 2003 zu einem der besten jungen britischen Schriftsteller gewählt und gewann den E.M. Forster Prize der American Academy of Arts and Letters. Er ist Editor-at-Large bei der London Review of Books und Fellow der Royal Society of Literature.


Andrew O´Hagan
Caledonian Road 
Gesprochen von: Maximilian Laprell
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 24 Std. und 57 Min.
Aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Kempf-Allié, Manfred Allié
Zeitgenössische Literatur, Englische Literatur
Hörbuch Hamburg, 2024
Ullstein Verlag, 2024, Hardcover, 784 Seiten



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Roman

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