Direkt zum Hauptbereich

Seht was ich getan habe von Sarah Schmidt - Rezension von Sabine Ibing




Rezension von Sabine Ibing






Seht, was ich getan habe 

von Sarah Schmidt








Der Anfang: »Er blutete noch. ›Jemand hat Vater getötet!‹, schrie ich.«

Was ist Kriminalliteratur?


Die meisten Krimis sind literarisch gesehen eher Massenware. Aber Kriminalliteratur bezieht sich nicht nur auf den von vielen Lesern als Krimi bezeichneten Detektivroman (Leiche – Ermittlung – Täter gefunden), er ist normalerweise nur ein Subgenre. In diesem Roman haben wir es mit dem typischen »Whodoneit« (Wer war es?) zu tun, allerdings nicht in Form eines Detektivromans, sondern hier finden wir die reine Form der Kriminalliteratur. Was ist Kriminalliteratur? Ein Teil der Literatur, der sich nicht einfach abgrenzen lässt, auf der einen Seite dies, auf der anderen das … Kriminalliteratur ist Literatur. Im Fokus dieser Romane stehen Gewalt und Verbrechen. Ende. 


»Eines Tages sah ich eine Frau, die sich in die Seine stürzte und wie ein Schwan unter den gebogenen weißen Brücken und Pont Saint-Michel entlangschwamm. Die Geräusche, die sie dabei machte – eine Oper. Sie lächelte, trieb fort und verschwand. Ich klatschte in die Hände und rief Bravo!, um sie dazu zu beglückwünschen, wie sie die Verantwortung für sich selbst übernahm.«



Kopfkino pur


In diesem Roman geht es um ein Verbrechen: Das Ehepaar Borden wurde bestialisch ermordet. Wer war es? Minutiös werden die letzten Tage vor und nach dem Mord um den 4. August 1892 erzählt. Zunächst lernen wir Lizzie kennen, dann ihre Schwester Emma. Sarah Schmidt hat in einem wahren Mordfall recherchiert, der nie aufgeklärt wurde. Sie hat in dem Borden-Haus übernachtet, das heute ein B&B ist, akribisch die alten Unterlagen durchforstet. Herausgekommen ist für mich ein Buch, das unter die Haut geht (auch in die Nase, kribbeln im Magen), Kopfkino pur.


»Ich stand an Helens Fensterscheibe gelehnt und spürte die Morgensonne warm wie Mutters Berührung. Wie sie auf meine Haut brannte.«


Die Mutter der Geschwister starb, als Lizzie zwei Jahre alt war, Emma war bereits zwölf. Vater Andrew heiratet bald Abby. Mit im Haus lebt eine Haushälterin. Es gibt den Onkel der beiden Mädchen, der seiner verstorbenen Schwester versprochen hatte, ein Auge auf die Nichten zu halten. Emma kam erst einen Tag nach dem Mord heim. Ist Lizzie in der Lage, zuerst ihre Stiefmutter im Gästezimmer dann den Vater unten im Wohnzimmer mit der Axt zu zerhacken? Wo ist die Axt geblieben? War noch jemand im Haus, vielleicht ein Einbrecher? Und der Onkel, gerade zu Besuch, war er wirklich zum Mordzeitpunkt außerhäusig? Wer hatte Gründe? Emma ist nicht die Täterin, das ist das einige Faktum. 


»Ich dachte daran, wie Lizzie zwei Monate zuvor im Morgengrauen in mein Bett geschlüpft war und geflüstert hatte: ›Ich will nur, dass er leidet …‹ Die Art, wie sie gelachte hatte. ›Stell dir vor, er würde die Treppe hinunterstürzen! Was glaubst du, welche Geräusche er machen würde?«


Sarah Schmidt ist dicht dran an ihren Figuren. In der Ichperspektive lässt sie alle zu Wort kommen, abwechselnd in den Kapiteln: Was passierte um den 4. August 1892? Aber auch rückblickend erzählen sie ihre Geschichte. Langsam blättern sich vor den Lesern die Protagonisten auf, entblättern Gedanken, Erinnerungen. Hier ist Niemand Freund von Irgendwem. Wer lügt uns an? Mit großer erzählerischer Kraft bringt uns die Autorin die Figuren nahe. 
Haushälterin Bridget hat einiges zu berichten, ihre Stellung im Haus, die Herrschaften, ihre Beziehung zu den Schwestern, ihre Sehnsüchte. 


Eine Bilderbuchfamilie ist das nicht

»… strich die Hose glatt und ging auf Lizzie zu. … Ich sah die kleinen Speichelfäden in seinem Bart. Er trat ganz dicht an Lizzie heran und schlug ihr ins Gesicht. Oh, was für ein Geräusch erfüllte das Zimmer, der Klang von Haut, ein Hackmesser im Fleisch, und Lizzies Kopf flog zur Seite, ihre Schultern verbreiterten sich, wie Flügel, und mein Herz raste …«

Eine Bilderbuchfamilie ist das nicht. Was geschah an diesem heißen Augusttag? Sommerhitze, Schweiß, Gerüche, die an die Grenzen der Nasen der Leser gehen, immer wieder das ewig aufgewärmte Hammelfleisch in Brühe, das seit Tagen auf dem Herd steht, der Duft der Hammelbrühe, immer wieder, Finger bohren in überreifen Birnen, die Beschreibung von Menschen, deren Ausdünstungen. Das Hausmädchen Bridget hörte an diesem Morgen ein Geräusch: »Schock. Schock. (…) schock, die Luft stand still.« Was hatte sie gehört? Der Leser wird verführt, hierhin gelenkt und dorthin, vier Erzähler, die wir persönlich nicht kennenlernen wollen, auch nicht die anderen Protagonisten. Und am Ende muss der Leser selbst entscheiden! Aus jeder einzelnen Seite strömt Zersetzung, Verfall – das Haus, die Familie, die Beziehungen, die Protagonisten selbst, ein Roman, der alle Sinne anspricht, unter die Haut geht, so dicht an den Figuren. Ich habe mich erwischt, wie ich beim Lesen am Buch schnupperte.

Hat es die vierte, einzig fiktive Figur im Roman gebraucht? Rein theoretisch kann man sie weglassen. Aber diese Figur gibt der Geschichte mehr Spannung, inbegriffen Brutalität und Ekel. Für mich war es in Ordnung. Die Autorin hat es geschafft, dass ich nach der Lektüre bestimmt zwei Wochen lang in Restaurants Lammfleischempfehlungen überblättert habe, der Geruch der Hammelbrühe haftete noch in der Nase.


US-amerikanischer Kriminalgeschichte 


Die australische Buchhändlerin Sarah Schmidt hat Stück US-amerikanischer Kriminalgeschichte aufgegriffen. Es ist ihr erster Roman, ich freue mich auf ihren nächsten. Der Fall Lizzie Borden ist damals mit einem Freispruch für die angeklagte Lizzie geendet. Allerdings hat sie sich gesellschaftlich nie von dem Verdacht befreien können, die Mörderin zu sein. Der Fall hatte Kult-Status in den USA: Es gibt diverse Lizzie-Borden-Literatur, fiktiv wie auch dokumentarisch, »She Took an Axe«,  ein Pop-Song, der ihr gewidmet wurde, eine amerikanische Heavy-Metal-Band nannte sich nach ihr, es gibt eine Lizzie-Puppe, ein Ballett, eine TV-Serie. 


Enden wir mit einem amerikanischen Kinderreim: 
»Lizzie Borden took an axe
and gave her mother forty whacks
and when she saw what she had done,
she gave her father forty-one.«






Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo

  1983 , der Polizist Noah Scott ist besessen davon, den Serienmörder Bible John zu erwischen. Er steht im Verdacht, Frauen, die aus Diskotheken verschwanden, nie wieder auftauchten, ermordet zu haben. Seit Jahren ist Noah an dem Fall dran, und er glaubt, den Täter identifiziert zu haben. Er folgt John Clyde und es gelingt ihm, auf seinem persönlichen Friedhof die Handschellen anzulegen – doch dann krampft sich etwas in seiner Brust zusammen und es wird schwarz vor seinen Augen … Ein spanischer literarischer Thriller vom Feinsten! Weiter zur Rezension:    Wenn das Wasser steigt von Dolores Redondo