Direkt zum Hauptbereich

Blind von Christine Brand - Rezension





Rezension

von Sabine Ibing




Blind 

von Christine Brand



Sprecherin: Martina TregerUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 10 Std. und 43 Min.



Der Anfang: Das Kind lebt! Es lebt!‹
Plötzlich geriet alles in Bewegung. Der Notfallarzt hetzte die Stufen hoch, zwei Sanitäter eilten mit einer
Trage hinterher, darauf diverse Koffer, Sauerstoff und eine Accuvac-Absaugpumpe.

Nathaniel ist blind. Ein schreckliches Familiendrama in seiner Kindheit hat ihm nicht nur das Augenlicht geraubt, sondern auch die gesamte Familie. In seinem Alltag kommt er gut zurecht, doch da er alleine wohnt, benutzt er manchmal die App «Be My Eyes». Über sein Handy wird er anonym mit einem Teilnehmer verbunden, der ihn sehen kann. Der Blinde hält nun das Handy auf ein Objekt, stellt seine Frage, z.B. ob ein Lebensmittel im Kühlschrank abgelaufen sei oder noch genießbar. Als Nathaniel unbedingt ein blaues Hemd auswählen möchte, wird er mit einer Frau verbunden, die ihm freundlich weiterhilft. Plötzlich wird das Gespräch durch einen Schrei und ein Geräusch unterbrochen, von dem Nathaniel vermutet, die Frau sei gestürzt. Sie sagte noch: »Was machen Sie …« Darauf erfolgt eine unheimliche Stille - die Verbindung bricht ab. Etwas Schlimmes muss passiert sein, der Blinde ist sich sicher, die Frau ist nicht einfach gestolpert. Die Polizei wimmelt den Ohrenzeugen ab. Nathaniel erinnert sich an die TV-Reporterin Milla Nova, die ihn wegen der App interviewte und er kontaktiert sie. Endlich scheint ihm jemand zu glauben und nicht nur das: Millas Freund, Sandro Bandini, ist Leiter der Abteilung Leib und Leben in Bern. Schnell ist die Sache geklärt, der Frau geht es gut und Milla und ihr Freund gehen ihren eigenen beruflichen Ermittlungen nach. Doch Nathaniel lässt nicht locker, er spürt, dass hier etwas nicht stimmt.

Be my eyes‹, diktiert Nathaniel in sein Handy. Als die automatische Frauenstimme ihm sagt, er könne per Doppelklick ein Gespräch anfordern, tippt er zwei Mal auf das Gerät. Sofort wählt die App per Zufallsgenerator eine Mehrzahl von Sehenden an. Mit demjenigen, der am schnellsten rangeht, wird er in wenigen Augenblicken per Videochat verbunden sein. Seine Handykamera wird dem Sehenden zeigen, was Nathaniel selbst nicht sieht.

Es gibt viel Personal in diesem Krimi

Wir haben es hier mit drei Protagonisten zu tun, die ihre eigenen Wege gehen, sich nicht gegenseitig in die Karten schauen lassen, bzw. Milla, die etwas halbherzig Nathaniel zur Seite steht. Die hochschwangere Carole Stein ist das Opfer, sie wird gefangengehalten – der Leser verfolgt parallel ihr Martyrium. Der Plot ist intelligent zusammengebaut, es gibt eine Menge Wendungen und Überraschungen – Hochachtung für die Konstruktion der Geschichte. Im Personal-Präsens erlebt der Leser / Hörer die Story in Echtzeit, jedes Kapitel ist einer anderen Person gewidmet. Letztendlich geht es nicht nur um Carol, denn Milla und Sandro verfolgen ihre eigenen beruflichen Fälle. Der Krimi ist insgesamt spannend, hängt aber hin und wieder auf Grund seiner Komplexität. Am Ende waren es mir zu viele Cliffhanger im Wechsel. Mir fehlte allerdings der Zugang zu den Figuren, die insgesamt sehr schablonenhaft gebaut sind. Die Frauenfiguren sind statisch, einschließlich sämtlicher Nebenfiguren. Alle Frauen sind stark, unabhängig, wollen sich nicht an Männer binden. Würde ich sagen, sie sind männerfeindlich, ginge das zu weit – ohne Kerle lebt es sich besser – vielleicht kann man es so formulieren. Carole Stein hat sich über eine Datingplattform mit Männern getroffen: Intelligent, erfolgreich und gutaussehend, so ihr Auswahlkriterium, so wie man einen Zuchthengst auswählt. Sie will ein Kind für sich allein, wer letztendlich der Vater ist, ist für sie nicht von Belang. Ihre Freundin ist ähnlich gestrickt. Milla, erfolgsorientierte TV-Journalistin aus Zürich, ist gern mal am Abend mit Sandro in Bern zusammen, genießt seine Kochkünste, den Sex, das genügt ihr als Beziehung. Die Frauen wirken jede in ihrer Art wenig empathisch, die Männer sind eher anhänglich. Alle Nebenfiguren wirken auf mich klischeehaft, insbesondere die Datingpartner. Nathaniel ist die einzige Figur, der man ein wenig nahe kommt. Man erfährt eine Menge über das Leben als Sehbehinderter, was mir gut gefallen hat. Am Ende, rückblickend, lassen einige Protagonisten Fragen offen, man versteht nicht, warum sie dies oder jenes getan haben. Und hier muss die Autorin tief in die Kiste greifen: Sie erklärt am Ende auf den letzten Seiten dem Leser wieso irgendwer irgendwas gemacht hat. Genau das hätten die Protagonisten selbst erledigen müssen. Aber dann wäre der Plot ja am Ende nicht so überraschend gewesen. Doch nicht alle Fragen, besonderes zu den Hauptprotagonisten, werden geklärt. Interessanterweise war es mir die ganze Zeit egal, ob Carole Stein überlebt oder nicht – die Autorin hat es nicht geschafft, mein Herz für ihr Leid zu erwärmen.

Die Figuren bleiben dem Leser fern

So viele werden dafür ja wohl nicht infrage kommen‹, hört sie ihre Ärztin sagen.
Wenn Sie wüssten, denkt Carole. ›Ich will gar nicht wissen, wer der Vater ist‹, ruft sie über die Trennwand hinweg. ›Und ich bin mir sicher, dass auch die potenziellen Väter es lieber nicht wissen möchten.

Fazit: Ein ausgeklügelter Krimi, der mit einigen Hängern spannend ist, aber sich nicht ins Herz der Leser / Hörer einbrennt, da die Figuren zu oberflächlich und unnahbar bleiben.



Christine Brand arbeitete als Redakteurin bei der »Neuen Zürcher Zeitung«, als Reporterin beim
Schweizer Fernsehen und als Gerichtsreporterin. Im Gerichtssaal und durch Recherchen und Reportagen über die Polizeiarbeit erhielt sie Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie. Sie hat bereits diverse Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht. Christine Brand lebt in Zürich, reist aber die meiste Zeit des Jahres um die Welt.





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz