Direkt zum Hauptbereich

Archiv der verlorenen Kinder von Valeria Luiselli - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing




Archiv der verlorenen Kinder 

von Valeria Luiselli 


Der Anfang: Abfahrt: Sie schlafen mit offenem Mund und dem Gesicht zur Sonne. Junge und Mädchen, mit Schweißperlen auf der Stirn und trockenem weißen Speichel auf den roten Wangen.

Eine Patchworkfamilie aus New York bricht mit dem Auto zu einer Reise nach Arizona auf – ein Roadmovie. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in die USA. Zwei Erzählstränge fließen zusammen. Mit dem Auto tagelang unterwegs, nicht immer ganz einfach, sich die Zeit zu vertreiben, Hörbücher hören, singen, spielen, dem Vater zuhören, wenn er etwas über die Apachen erzählt, Radio hören. Im Sender berichten sie über die verlorenen Kinder aus Latainamerika, deren Eltern schon länger in den USA leben, Kinder, die sich auf den Weg zu den Eltern machen. Aus dem Fenster schauen, Landschaften ziehen vorüber, öde Landstriche mit halb verlassenen Städten, das Ringen, die nächste Tankstelle noch vor dem roten Strich zu erreichen, denn viele Tanken sind stillgelegt – Wüsten, Berge, verlassenen Regionen, menschenleere Gegenden. Diners, Motels für die Ruhepausen, für die Nacht. Im Radio immer wieder die Berichte über die Kinder: Sie tragen Rucksäcke mit Wasser, Spielzeug und sauberer Unterwäsche bestückt, sie laufen, klettern auf Züge und in offene Frachtcontainer – nicht jedes Kind schafft es bis zur Grenze …

Obwohl wir im Auto nahe beisammensitzen, sind wir vier unverbundene Punkte – jeder auf seinem Platz, in eigene Gedanken versunken, beschäftigt von unterschiedlichen Stimmungen und unausgesprochenen Ängsten.

Geschichten der Flüchtlingskinder

Die Erzählerin ist die Frau in diesem Auto – dabei ihr Mann, mit dem sie kaum kommuniziert, ihre Tochter, sie ist fünf, sein Sohn, er ist zehn Jahre alt - die sie als das Mädchen und der Junge betitelt. Eine ziemlich distanzierte Erzählhaltung, eher einem Bericht entsprechend. So auch die Kapitel. Ganz am Anfang berichtet sie von der Rechtssache gegen Manuelas Töchter, die immer noch nicht bei ihrer Mutter sind. Ein Non-Profit Anwalt hatte es immerhin geschafft, sie aus der Jugendstrafanstalt in Texas in eine humanere Unterkunft zu verlegen, in ein ehemaliges Walmart-Zentrum. Ein Fall, wie zehntausende andere gibt: «Mehr als achtzigtausend Kinder ohne Papiere aus Mexiko und dem nördlichen Dreieck Zentralamerikas», flohen vor Gewalt, sexuellem Missbrauch an die südlichen Grenzen der Vereinigen Staaten, um Schutz zu finden, wollen mit ihren Eltern oder Familienangehörigen, die in den USA leben, zusammengeführt werden. Die Kinder werden verhaftet. – Die Erzählerin ist immer in Gedanken zu den Kindern, will das alles archivieren – die Ehe scheint gescheitert, nur der Job verbindet sie noch mit ihrem Mann. Immer wieder Vernehmungsprotokolle, Geschichten der Flüchtlingskinder. Sieben Schachteln mit Archiven im Kofferraum, die dieser Geschichte ihr Konstrukt geben. Ihr Mann ist auf den Spuren der letzten freien Chiricahua-Apachen, der untergegangenen Apachen-Kultur, darum die Reise. Archivieren. Kulturgut. Etwas geht verloren. Archive in Kästen im Auto. Die Familie fährt auf die Grenze zu, die Kinder wandern auf die Grenze zu. Die Familienmitglieder wandern voneinander ab.

Der Kniff, den Roman kippen zulassen

Fast jeden Tag fahren wir, fahren noch ein Stück und hören Geräusche, die sich über diesem gewaltigen Territorium ausbreiten, und manchmal nehmen wir sie auf, Geräusche, die unseren Weg kreuzen. … Inzwischen sind wir seit über drei Wochen unterwegs, aber manchmal fühlt es sich an, als hätten wir unsere Wohnung in New York erst vor drei Tagen verlassen; und dann wieder scheint es, wie im Augenblick, als wären wir vor einer Ewigkeit aufgebrochen und bereits völlig andere Menschen als vor dieser Reise.

Im letzten Drittel kippt die Geschichte und die Perspektive. Der Junge erzählt nun. Eingewoben gibt es eine Menge Zitate und Elegien aus Büchern, viele reisen als Hörbucher mit, wie z.B. T.S. Eliot, Rainer Maria Rilke, Dante, Virginia Woolf, Ezra Pound. Ein vielschichtiger Roman, der sich aus vielen Bruchstücken aneinanderfügst. Es ist auch ein Zeitdokument über die Kinder von Einwanderern in den USA, ein Zeitdokument über die Hölle in ihren Herkunftsländern, ein Aufzeigen über eine menschenverachtende Politik gegenüber Flüchtlingen, letztendlich überall auf der Welt. Interessant ist die Gestaltung dieses Romans, der sich aus verschiedenen Perspektiven und Fragmenten zusammensetzt.


Valeria Luiselli, geb. 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, Die Schwerelosen und Die Geschichte meiner Zähne, sowie die Essays Falsche Papiere. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. Archiv der verlorenen Kinder ist der erste Roman, den sie in Englisch geschrieben hat. Sie lebt in New York.


Valeria Luiselli 
Archiv der verlorenen Kinder
Original: The Lost Children Archive, 2019
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
Roman
Kunstmann Verlag, 2019, 432 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Yrsa von Alexandra Bröhm

  Journey of Fate (Yrsa. Eine Wikingerin 1)  Yrsa ist eine junge Wikingerin , die sich nach dem Tod der alleinerziehenden Mutter seit vier Jahren allein um ihrem Bruder Sjalfi kümmert. Als sie eines Tages von der Jagd nach Hause kommt, ist Sjalfi verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche und den gefährlichen Weg nach Haithabu . Denn es heißt, es würden Kinder entführt und versklavt. Unterwegs lernt sie Krieger kennen. Ihr Traum war immer schon, eine Kämpferin zu werden. Der Krieger Avidh hat es ihr besonders angetan. Ich würde den Roman ins Genre Young Adult einordnen. Wer softe Literatur, einen Liebesroman zur Entspannung mag, liegt hier richtig.  Weiter zur Rezension:    Yrsa von Alexandra Bröhm

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher