Direkt zum Hauptbereich

12 Grad unter Null von Anna Herzig - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



12 Grad unter Null 


von Anna Herzig 


HAST DU MIT DEINER

. MUTTER 

. FREUNDIN

. SCHWESTER

. TOCHTER 

. ARBEITSKOLLEGIN 

 

NOCH EINE RECHNUNG OFFEN?


MACH SIE FERTIG, DAS GESETZ STEHT HINTER DIR ;=)

#FRAUENSCHULDEN

#WEITMANNSCHULDENGESETZ


Eine beinharte Dystopie, bei der man gleich auf den ersten Seiten Schnappatmung bekommt! Ein kleines Land  namens Sandburg erlässt ein neues Gesetz, dass jedem Mann nach § 5.1 des «Weitmannsschuldengesetz» erlaubt, jeder Frau, mit der er in verwandtschaftlicher Beziehung steht, jemals mit ihr anderweitig in Beziehung gestanden hat, «jede geschenkte, geborgte und investierte Summe» in Geldwert zurückzuverlangen kann. Die Rechtmäßigkeit der Forderung wird nicht inhaltlich geprüft, guter Leumund (den hat man als Mann) reicht aus. Obendrauf gibt es für jede Forderung eine staatliche Prämie.


§ 5.1.2 Wenn die Frau/die Frauen dieser Aufforderung, die binnen vierzehn Tagen gerichtlich durchgesetzt werden kann, nicht nachkommt/en, wird ein permanenter Eintrag in die öffentliche Frauenschuldenliste (www.frauenschulden.gv.sa ) erfolgen, die es der Frau/den Frauen nicht mehr möglich machen wird, eigenständig

· einen Miet-/Kaufvertrag abzuschließen,

· Handelsgeschäfte jeglicher Art durchzuführen (Einkaufen in

allen Varianten),

· einen Dienst-/Werkvertrag zu unterzeichnen,

· ein Bankkonto zu eröffnen,

· Versicherungen abzuschließen,

· die Scheidung vom Ehemann einzureichen,

· eine eheliche Verbindung einzugehen,

und sie somit de facto weitgehend entmündigt.


Wozu der Mensch fähig ist, wenn er Macht in die Hand bekommt

Greta ist im sechsten Monat schwanger. Eigentlich ein Grund zur Freude, denn Greta und Henri haben lange Zeit versucht, Kinder zu bekommen. Doch Henri, Gretas Verlobter, verlangt seine Investitionen in Greta zurück. Bezahlen kann sie ihn nicht … Nein, er habe nicht die Absicht, sich zu trennen, er wolle schlichtweg zurück, was ihm zusteht, auch wenn Greta das gemeinsame Baby in ihrem Bauch trägt. «Es ist einfach ein bisschen geil, Macht zu haben.» 14 Tage habe sie Zeit. Greta ist entsetzt über Henris Kälte und Gleichgültigkeit. 


Eine toxische Familie


Nichts ist wichtiger als diese Suppe. Und der Gehorsam der Mutter. Beides, so sagt er gelegentlich, habe er mit der Heirat, als Ernährer der Familien, erstanden.


Greta wendet sich an ihre ältere Schwester, nachdem Mutter und Schwiegermutter die Hilfe ausgeschlagen haben. Es folgen Rückblicke, die zeigen, in welch verstrickter Familiensituation die beiden aufwuchsen: der Vater als Sinnbild des Patriarchats. Die Mutter, die jeden Tag aufs Neue versuchte, ihren Ehemann nicht gegen sich oder die Töchter aufzubringen. Greta, das vom Papa verhätschelte jüngere Kind, die Mutter und Schwester überwachte, verpetzte, und Elise, die Ältere, die extrem unter dem Vater litt, eine Mutter die duckend unter dem Radar lief, um bloß nichts falsch zu machen. Die alle Demütigungen herunterschluckt. Die nicht die Familie verlassen konnte, weil ihr täglich gepredigt wurde, was dann passieren würde. Die femininen Teile der Familie, die vor dem Familienoberhaupt knien mussten, wenn dieser ein neues Familiengesetz verkündete. Eine toxische Familie, geprägt von patriarchaler Gewalt, Missbrauch und Manipulation. Frauen, die bereits als Kind auf Linie getrimmt werden, dem Mann zu gehorchen. Der Mann, der das Zepter in der Hand hat zu lenken, zu bestrafen, sollte einer die Linie übertreten, Denunziation zu loben. Mütter, die in ihre Söhne investiert haben, werden nun mit Forderungen der Söhne konfrontiert, für was auch immer, die es nun auf das Erbe der Mutter abgesehen haben. Das Halali ist geblasen, die Jagd auf die Frauen eröffnet. Eine verstörende Welt.


Wortstark verdichtet

Anna Herzig schreibt in reduziertem Stil mit wuchtigen Leerstellen; die Verdichtung gibt dem Text die Kraft. Eine beklemmende Gesellschaft, die letztendlich die Frauen zu rechtlosen Individuen klassifiziert. Ohne Kapital keine Macht, mit Schulden eine Gesetzlose. Eine Dystopie – die, wenn wir ehrlich sind, allerdings mehr oder weniger in einigen Ländern dieser Welt ähnlich strukturiert ist. Eine nicht vorstellbare Form für unsere Gesellschaft, eine, die es dem Lesenden eiskalt den Rücken herunterlaufen lässt. Mancher Mann mag sich dabei die Hände reiben. Drum prüfe genau, bei welcher Regierung frau sein Kreuz macht! Ein furchterregender Roman zum Thema Frauenrechte und Femizid. 


Anna Herzig ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Künstlerin. Sie wurde 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geboren. Herzig hat mehrere Bücher, u. a. bei Voland & Quist sowie beim Otto-Müller-Verlag veröffentlicht. Der Roman „12 Grad unter Null“ ist eines ihrer persönlichsten Werke. In ihrer eindringlichen, direkten Sprache lässt sie uns spüren, was es bedeutet, wenn die Gesellschaftsstrukturen, in denen wir leben, bis zum bitteren Ende gedacht werden.



Anna Herzig
12 Grad unter Null 
Dystopie, Zeitgenössische Literatur, Femizid, Frauenrechte, Österreichische Literatur 
Hardcover, 144 Seiten
Haymon Verlag, 2023



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

  Ein atmosphärisch dichter und spannender Schweden-Krimi von Hans Rosenfeldt, bekannter Krimiautor und Drehbuchautor (skandinavische TV-Serie «Die Brücke», britische Fernsehserie «Marcella» über Netflix) erwartet uns mit dem Auftakt einer neuen Serie. Die Erwartungen waren hoch. Rosenfeldt hat geliefert. Die Kleinstadt Haparanda, nahe der finnischen Grenze, wird zufällig zum Schauplatz eines Drogendeals. Wer hat die Drogen und das Geld, wer wird sie am Ende bekommen? Der einzige der durchblickt, ist der Leser – Dank Mehrperspektivität. Denn alle Protagonisten tappen im Dunkeln – wissen nichts voneinander. Ein komplexer und spannungsreicher Thriller! Weiter zur Rezension:    Wolfssommer von Hans Rosenfeldt

Rezension - Kalte Füße von Francesca Melandri

  Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der «Rückzug aus Russland» hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt - auch in der Familie von Francesca Melandri, einer der wichtigsten Autorinnen Italiens. Ihr Vater hat ihn überlebt. Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Der Vater ist vor allem in der Ukraine gewesen. Sie tritt mit ihrem verstorbenen Vater in ein Zwiegespräch, wobei sie den Krieg damals mit dem Heutigen in der Ukraine vergleicht. Und es ist eine Abrechnung mit der italienischen Linken. Empfehlung, unbedingt lesen! Weiter zur Rezension:    Kalte Füße von Francesca Melandri 

Rezension - Die Grille in der Geige von Anna Haifisch

  Eines Sommers findet eine wandernde Grille im Wald eine alte Geige . «Wie praktisch!», ruft sie und zieht in das geräumige Instrument ein. Sie töpfert und zieht Nudeln und des Nachts zupft sie die Saiten, erfreut alle Insekten und Mäuse in der Umgebung mit ihrer Musik. Doch als ein bitterkalter Winter das Land überzieht, stürmen die Insekten das Heim der Grille , zerhacken es und zünden es an … Ein humorvolles Bilderbuch ab 4 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Grille in der Geige von Anna Haifisch 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Aggie und der Geist von Matthew Forsythe

  Aggie freut sich darauf, endlich in ihr eigenes Haus einzuziehen – bis sie feststellt, dass dort bereits ein Geist wohnt. Das Zusammenleben läuft mehr schlecht als recht; nirgendwo hat sie ihre Ruhe. Also stellt Aggie Regeln auf. Doch der Geist hält sich leider nicht gerne an Regeln, bricht sie alle. Aggie fordert ihn völlig entnervt zu einem Wettkampf in Tic-Tac-Toe heraus – wer gewinnt, bekommt das Haus. Ein herrliches Bilderbuch an 4 Jahren, das mit viel Humor geschrieben ist und eine Menge Diskussionen zum Zusammenleben bietet. Weiter zur Rezension:    Aggie und der Geist von Matthew Forsythe