Direkt zum Hauptbereich

Lügenland von Gudrun Lerchbaum - Rezension

Rezension


von Sabine Ibing







Lügenland 


von Gudrun Lerchbaum



Sprecher: Sarah Alles

Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 11 Std. und 10 Min.



Was, wenn Ina Matusek kein Mensch, sondern ein Konzept ist?

Eine österreichische Dystopie, 2035, wir befinden uns in Wien, an den Ufern der Donau in einer lauen Juninacht. Mattea, eine regierungstreue Milizionärin feiert ihren letzten Tag in der Einheit, den letzten Tag der  Unbemanntheit. Die Hochzeit ist wie üblich, durch den Staat komponiert, der Kanzler sorgt für jeden, weiß, was für den Einzelnen gut ist. Der Kanzler, mittlerweile alt geworden, er ist an der Macht, seit damals die Einwanderer versuchten, das Land mit ihren Werten, ihrer Religion, zu überschwemmen. Er hat sie alle ausgeschafft, Österreich eingezäunt.

Ohne Fonband bist du ein Niemand - ein Niemand ist gefährlich


Die Milizionärinnen sind Kameradinnen, alle Mitte Zwanzig, haben gute Laune, sie sind ausgelassen, zugeknallt mit Drogen. Mattea, hat ihre Glock dabei, die sie am nächsten Tag abgeben muss. Ein kleines Kind kommt angelaufen, man spielt mit ihm, ein Schuss löst sich, wer auch immer ihn abfeuerte, Chaos, noch ein Schuss, Kati ist tot. - Mattea ist sicher, sie trägt die Schuld am Tod der Freundin. Hochzeit am nächsten Morgen, Glock abgeben, in die Kirche gehen, ein neues Leben beginnt, das als Hausfrau und als Mutter. Mattea kotzt vor der Tür. Die Miliz fährt vor, man sucht nach ihr, das gesamte Gelände, das Restaurant ist kameraüberwacht. Mattea flieht in die Küche, erzählt dem Koch, es gäbe ein Spiel, sie solle mit ihm die Kleidung tauschen. Sie kann entkommen, doch wohin nun? In dieser sogenannten Demokratur sind alle Straßen und Plätze überwacht, natürlich auch der einzelne Mensch. Jeder trägt ein Fonband, ein Multifunktionsarmband, das gleichzeitig der Information dient, wie auch als Identifikation und Zahlungsmittel. Wohin kann sich Mattea wenden? Sie muss über die Grenze fliehen, ins freie Deutschland, wo noch immer die uralte Kanzlerin regiert, mit einem Syrer als Außenminister. Ohne Hilfe kann sie es nicht schaffen, die Oma kennt sich vielleicht aus, denn Matteas Vater wurde vor langen Zeiten als Grünsozialist verhaftet, wofür Mattea sich schämt. Der Kanzler ist ein guter Mann, der sich für das Wohl des Volkes opfert. Doch Mattea ist nun eine gesuchte Mörderin, vielleicht kann sie Kontakt zu den Widerständlern bekommen, eine Gruppe von Outlaws, die sich zu verstecken wissen. Zunächst zerstört sie ihr Fonband. Ohne fällt sie allerdings auf, sie benötigt ein Neues.

Staatsfeindin Nr. 1

Als Erstes braucht Mattea eine Übernachtungsmöglichkeit. Ein älterer Herr, Hofrat Dr. Paul Christian Schiele, Sektionschef im Medienministerium, bietet ihr am Bahnhof einen nächtlichen Unterschlupf an, er gehöre zu denen, die Flüchtlingen Obdach bieten. Woran hat er sie erkannt? Der Mann nimmt sie mit nach Hause, ein abgelegenes Haus im Wald. Schnell ist klar, was er wirklich will. Das ist der Preis für die Übernachtung, denkt Mattea. Doch das soll nicht alles sein, der Mann meint, sie erkannt zu haben, hat die Miliz informiert, will sie ausliefern: Ina Matusek, die gesuchte Terroristin! Mattea bringt Schiele um, flüchtet mit seinem Geld, seiner Glock, und seinem Rucksack. Als sie am nächsten Tag eine Mediafolie kauft, sie entrollt, erkennt sie ihr Gesicht: Es ist das Bild von Mattea Inniger, die allerdings nun als Ina Matusek gesucht wird, Staatsfeindin Nr. 1.

Eine Schelmin will ich sein, keine Heilsfigur. Wenn sich jetzt gleich noch jemand meldet, der mich über den Mondsee hat wandeln sehen, dann schreie ich. Besser noch: Ich schieße den Erstbesten nieder, lasse mich neben der Leiche fotografieren und aus ist es mit der Dualität. Alles, um wieder wenigstens einen Faden in der Hand zu halten, ein wenig Kontrolle darüber zu gewinnen, was man in mir sieht. Wenn ich schon Ina sein muss, nicht Mattea sein darf.

Sind die meisten Menschen wirklich unzufrieden mit dem Kanzler?

Als die echte Ina geschnappt wird, gibt es ein Problem für den Staat. Mattea trifft auf die Widerständler, die Zecken, die ihr mit Misstrauen entgegentreten, die ihr auch nicht sympathisch sind. Sie instrumentalisieren Mattea und ihr bleibt nichts anderes übrig, das Spiel mitzuspielen: Mattea ist Ina. Der fest verankerte Staatsglauben in Mattea fängt an zu wanken, was ist die Wahrheit? Sind die Kampfdrohnen, die eine Kleinstadt beschossen haben wirklich nicht von den Zecken gesteuert, sondern von den Milizen? Sind die meisten Menschen wirklich unzufrieden mit dem Kanzler, trauen sich das nur nicht, zu sagen? Ist der Präsident kein netter Wohltäter? Zu Freiheit gehört doch Kontrolle! Was soll daran falsch sein? Mattea lernt einen Muslim kennen, dunkle Haut, andere Religion, mit solchen Menschen hatte sie noch niemals Kontakt, denn die hatte der Kanzler alle ausschaffen lassen, alle Ausländer mussten das Land verlassen, sie waren Feinde. Es gibt das staatseigene soziale Netzwerk Mindmine, in dem alle kritischen Kommentare sofort von Staatsangestellten gelöscht werden. Aber was passiert, wenn sie plötzlich mit dem Löschen nicht mehr hinterherkommen, wenn aus einer Terroristin eine Heldin wird? Wenn jeder plötzlich sagt: Ich bin Ina!

Du bist kein politischer Flüchtling. Du bist eine gesuchte Mörderin. Und als solche wird dich kein anständiges Land haben wollen. Es sei denn als Kämpferin, dann ist die Moral nicht so wichtig.

Die Icherzählerin Mattea, Soldatin, stets fremdbestimmt, gerät in eine Situation, die sie abermals fremdbestimmt handeln lässt. Der Leser begleitet sie und ihre Gedanken. Sie sitzt in der Zwickmühle, ihr ist die Freiheit genommen. War sie vorher frei? Sie sollte einen Mann heiraten, der für sie ausgewählt wurde. Soldatinnen müssen sich Übergriffigkeiten von Vorgesetzten gefallen lassen! Sieht so Freiheit aus? Und die Rebellen, was können sie schon ausrichten? Deren Kandidatin, Ruth, eine alte Frau, geliftet, unsympathisch, Mattea mag sie nicht. Sie wird auch feindselig von ihr behandelt. Und wie viele Zecken sind das überhaupt? Mattea soll sich für eine Ideologie ins Zeug legen, die nicht ihre ist. Hat sie überhaupt eine eigene Ideologie.

Macht ausüben

Letztendlich geht es in Gudrun Lerchbaums Thriller um Macht. Macht durch Angst, Vorteilsnahme, Beziehungen, Macht durch Status, Korruption, durch Lüge, Messer, Pistole, Bedrohung. Macht durch Medien und Staatsgewalt. Aber letztendlich auch die Macht der Masse, die etwas bewirken kann, wenn sie sich auflehnt, Macht durch Idole, Mythen und Helden. Ein feiner Roman, der leise, aber eindringlich daherkommt. Wie weit ist Österreichs Spießbürgertum dem Lügengeschwätz bereits erlegen? In diesem Roman hat die Abschottung dem Volk keinen Wohlstand gebracht. Hier geht es nicht um Schwarz und Weiß, die Grauzonen durchziehen die Geschichte. Es geht um Mattea, die sich finden muss, lernen, ihre eigene Macht auszuspielen. Das Ganze ist gewürzt mit Humor und einen Schlagoberst gibt die Liebe. An diesen Stellen am Ende wurde es mir ein wenig zu waberig, aber das ist Geschmack. Lügenland ist ein aktueller Thriller, heute mehr denn je. Mir hat er gut gefallen. Auch die Sprecherin des Hörbuchs fand ich nicht schlecht, eine junge Stimme zu der Icherzählerin, passend, auch der Sprachrhythmus zu den ruhigen Sätzen der Autorin, fein formuliert. Was mir fehlte, war ein leichter österreichischer Unterton, damit man sich verortet fühlt im Land der Demokratur.

Gudrun Lerchbaum, wuchs in Wien, Paris und Düsseldorf auf und studierte Philosophie und Architektur. Sie lebt mit ihrer Patchwork-Familie in Wien und schreibt seit 2006. „Die Venezianerin und der Baumeister“ ist ihr Debütroman.




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie

  Eine spannende Reise durch die Jahreszeiten zu Tieren und Pflanzen rund um den Globus. Das Jahr beginnt mit dem Januar – mit einem heißen Bad. In Japan baden die Japanmakaken mitten im Schnee in warmen Quellen, fühlen sich ziemlich wohl dabei. In Peru ist Paarungszeit für die Aras. Die Männchen wollen schön sein für die Damenwelt – und gehen vor der Balz für ihre Figur auf Diät: sie schlecken Schlamm. Auch in Afghanistan ist Paarungszeit mitten im Schnee für die Schneeleoparden. In der Antarktis schlüpfen Pinguine aus dem Ei. Und so geht es weiter durch das Jahr. Kleine Sachgeschichten aus der Natur ab 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie