Direkt zum Hauptbereich

Revanche von Claire Beyer - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Revanche

 
von Claire Beyer


Wie sagt man Unsagbares. Eine Hand aufs Herz, ein Streicheln über die Wangen, eine lange Umarmung. Ihre Lippen berühren, ihre Haare, ihren Schoß, ihre geschlossenen Lider küssen. Mon amour, mon amour. So brachten wir uns Worte bei. Lachten über die Aussprache des anderen. Bis wir vom rotbärtigen Unteroffizier entdeckt wurden. ... Der lüsterne Blick des Bärtigen verhieß nichts Gutes.


Alles beginnt mitten im Ersten Weltkrieg – eine kleine Liebesgeschichte zwischen einer Französin und einem jungen deutschen Soldaten, der als Meldereiter eingesetzt ist. Eine Familiengeschichte über drei Generationen, in 191 Seiten in knappen Puzzleteilen zusammengesetzt, nur das Elixier zusammengetragen: Der Soladat, seine zwei Söhne, die drei Söhne des einen; Frauen kommen kaum vor, nur als Randerscheinung, irgendwer muss die Kinder zur Welt bringen. Drei Männer herausgenommen, drei Generationen, Väter und ihre Söhne.


Das fünfte Rad am Wagen

Tobias war den Ausführungen des Vaters atemlos gefolgt. Plötzlich als dessen vertrauter, wie gleichwertig behandelt zu werden, war mehr als ungewöhnlich ... Die Begriffe Verzicht, erbe, Vertrag schmolzen jetzt zu einem Klumpen. ... Nie wieder mit seinem Vater und den Brüdern unter einem Dach wohnen zu müssen, versetzte ihn in eine geradezu euphorische Stimmung, die er nur mit Mühe unterdrücken konnte.

‹Zu deinen Brüdern kein Wort! Offiziell wirst du nach der Therapie in ein Wohnheim ziehen und Sprachen studieren.


Die Hauptfigur ist Tobias Ristow, der allein in einem riesigen Terrassen-Appartement direkt am Ufer des Neckars wohnt, das ihm nach dem Abitur der Vater schenkte. Der dritte Sohn, der sich nie wahrgenommen fühlte, der Sohn aus zweiter Ehe – noch einer, wo es doch bereits zwei Erben gab. In aller Heimlichkeit erhält diese Wohnung, studieren soll, solange, was immer er will. Er fühlt sich als der Auserwählte des Vaters. Zu seinen Stiefbrüdern hat er keinen Zugang. Das der damals Achtzehnjährige in seiner Naivität über das Ohr gehauen wurde, begreift er erst später. Nach Beendigung diverser Studiengänge wird er als Übersetzer im Familienunternehmen eingesetzt. Beziehungen halten bei ihm nie, bis er Lea Berner kennenlernt ...

 

Auf den Spuren der Familie

Tobias will wissen, warum Onkel Fritz damals so mir nichts, dir nichts fortging. Der Bruder seines Vaters verschwand spurlos zur gleichen Zeit, in dem Tobis Mutter bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam; Tobias war damals sieben Jahre alt. Der Junge verlor nicht nur die Mutter, den Onkel, sondern gleich die gesamte Familie, denn man steckte ihn in ein Internat. Mit mittlerweile 50 Jahren, als Typ, dem rein gar nichts gelingt, begibt er sich auf die Suche nach dem Onkel, hofft auf ein Leben mit Lea und findet Aufzeichnungen seines Großvaters.


Drei Männer, die außer ihren Genen nicht viel miteinander zu tun haben

Die Charaktere des Familienromans sind trotz der Kürze gut gezeichnet, der Spannungsaufbau ist stimmig, gibt Stück für Stück Geheimnisse preis. Letztlich haben wir es mit Einzelschicksalen zu tun, die als Familiegeschichte verbunden werden. Die Sprache ist kurz und prägnant, genauso reduziert wie die Handlung ist die Sicht auf die Dinge. Berührt hat mich das Drama des Soldaten – denn es ist unterm Strich eine völlig eigene Geschichte, die nur am Anfang und am Ende eingeflochten ist. Am Ende fragte ich mich, was dieser Mann in der Erzählung zu suchen hat. Sein Lebenslauf endet mit dem Krieg, wird nur noch in ein, zwei Sätzen weitererzählt. Hier fehlt mir die Anknüpfung zum Sohn, der später ein erfolgreicher Unternehmer wird, seine Darstellung beginnt erst in der Lehrzeit. Oder eine Beziehung zum Enkel, der den Großvater nie kennenlernte. Drei Männer, die außer ihren Genen nicht viel miteinander zu tun haben. Am Ende reist Tobias zu den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs nach Nordfrankreich, auf der Spurensuche nach seinem Großvater, mit dessen Aufzeichnungen er ein Videospiel entwickeln will. Geodaten per Smartphone, vermessen von Landschaften. Die einzige Verknüpfung. Doch das Ende hat noch viel mehr zu bieten, einen veränderten Tobias, der aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist. Und das alles hat mit seinem Vater zu tun. 


Spannend und unterhaltsam

Sprachlich hat mich das Buch beeindruckt. Jeder Satz ist auf den Punkt gebracht, ausgefeilt mit großem Spektrum. Die Seiten fliegen nur so dahin, ein warmes Gefühl breitet sich beim Leser aus. Spannend und unterhaltsam ist die Geschichte allemal. Claire Beyer sagt in einem Interview, der Teil zu August, dem Soldaten war wesentlich länger im Entwurf. Sie hat ihn stark reduziert, wollte «einen modernen Roman und keinen historischen über die ungeheure Entwicklung schreiben, die in den vergangenen 100 Jahren seit dem Ersten Weltkrieg passiert ist, quasi vom Meldereiter zum Smartphone.» Der Job von August, dem Meldereiter, der Depeschen von A nach B bringt, wäre heute nicht nötig, wie so vieles mehr.


Claire Beyer, 1947 geboren, lebt in Markgröningen bei Ludwigsburg. Sie hat ein Musical über Camille Claudel verfasst und Erzählungen, Kurzprosa und Gedichte in verschiedenen Anthologien sowie einen Band mit Lyrik veröffentlicht.


Claire Beyer
REVANCHE
Roman, Familiengeschichte
Hardcover, 256 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt, 2019



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Chronisch gesund statt chronisch krank von Dr. med. Bernhard Dickreiter

Von der Schulmedizin bis heute ignoriert: Die wahren Ursachen der chronischen Zivilisationskrankheiten – und was man dagegen tun kann Noch nie hat es so viele chronisch Kranke gegeben wie heute: Arthrose, Diabetes, Alzheimer, Rückenleiden, Krebs, Burnout usw. Der Internist, Reha-Experte und Ganzheitsmediziner Dr. med. Bernhard Dickreiter ist überzeugt, dass diese Patienten selbst aktiv etwas dagegen unternehmen können. Sein Standpunkt: Wir müssen alles dafür tun, damit es den Zellen in unserem Organismus gut geht. Jede Zelle ist von einer organtypischen Umgebung eingeschlossen, in die sogenannte extrazelluläre Matrix (EZM). Dort zieht die Zelle ihre Nährstoffe, den Sauerstoff, und hier entsorgt sie ihre Abfallstoffe. Ist die Zellumgebung nicht gesund, werden wir krank. Die Schulmedizin bekämpft meist nur Symptome: Schmerzen – Schmerztablette. Die Ursachen werden oft nicht hinterfragt, bzw. operabel versucht zu beheben: neues Knie, neue Hüfte usw. Dickreiter geht ganzheitlich vor. ...

Rezension - O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

  Kurzgeschichten herausgegeben von Felix Jácob Felix Jácob liebt Weihnachten und fürchtet es zugleich. Im Kreis seiner großen Familie wird an den Feiertagen zelebriert, beschenkt – und lautstark gestritten. Als passionierter Leser, studierter Philologe und langjähriger Büchermacher in europäischen Verlagen sammelt er seit Jahren die schönsten und bösesten Geschichten zum Fest. Wer spricht davon, Weihnachten zu feiern? Überstehen ist alles! Garstige, schräge Weihnachtsgeschichten für Lesende, die schwarzen Humor lieben. Weiter zur Rezension:     O du schreckliche: Ein garstiger Weihnachtskanon

Rezension - Himbeereis am Fluss von Maria Parr

  Norwegen, in dem großen roten Haus auf einem Hügel wohnt Ida mit ihrer Familie. Und der fünfjährige Oskar behauptet, ein Monster würde im Kleiderschrank sitzen, erzählt uns die achtjährige Ida. Aber die ernähren sich bloß von Socken, beruhigt sie ihrem Bruder, der nicht glauben will, dass es keine Monster gibt. Wir begleiten die Geschwister ein Jahr lang, von Fluss-Safaris in der Frühlingssonne, ein verregneter Sommer, Einschulung, Hüttenbau und Halloween mit verlorenen Vampiren in der Herbstdunkelheit. Die elf Geschichten sind humorvoll, authentisch und es wird niemals langweilig. Witzig, spritzig, empathisch wird hier Kinderalltag, Familienalltag beschrieben. Empfehlung für das Kinderbuch ab 7 Jahren! Weiter zur Rezension:    Himbeereis am Fluss von Maria Parr

Rezension - Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

  Rezepte, die du lieben wirst Der Israeli Yotam Ottolenghi hat zusammen mit seinem dreiköpfigen Küchenteam das nächste Kochbuch entwickelt. Das Team widmet sich dem Comfort Food und liefert inspirierende Gerichte, die nach Zuhause und Geborgenheit schmecken. Aber auch nach Kindheitserinnerungen und Reiseeindrücken. Comfort Food bedeutet für jeden etwas anderes, auf jeden Fall etwas wie Geborgenheit und Wohlfühlgefühl: ein Gefühl von Nostalgie, aber auch Vertrautheit. So sind über 100 Rezepte entstanden, von der Bolognese (mit asiatischen Gewürzen) bis zu Eier-Gerichten, von der One-Pot-Pasta bis zum Apfelkuchen. Rezepte, die zugleich originell aber auch vertraut und bewährt sind. Und immer mit dem gewissen Ottolenghi-Twist. Weiter zur Rezension:    Comfort von Ottolenghi und Helen Goh

Rezension - L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

  Die Geheimnisse unserer Küche L’Osteria Grande Amore – das erste Restaurant eröffnete 1999 in Nürnberg. Systemgastronomie – heute hat die Kette gut 200 Restaurants in neun Ländern mit rund 8.000 Beschäftigten. Seitdem hat sich das Ursprungskonzept mehr als bewährt: Frische italienische Küche, lässiges Ambiente, Pizze, die über den Tellerrand hinausragen und Systemgastronomie, die schmeckt. Im Buch sind in der Einführung einige Fotos zu den Lokalitäten enthalten. Und dann geht es los zu den Rezepten aus L’Osteria Grande. Neues Rezepte zu Pasta und Pizza! Empfehlung! Weiter zur Rezension:    L’Osteria Grande Amore von L’Osteria und Diana Binder

Rezension - Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

  Seit der kleine Bruder auf der Welt ist, kümmern sich die Eltern nur noch um ihn. Dabei sieht Daichi doch aus wie ein Äffchen und kann nichts weiter als schlafen, schreien und in die Windel machen. Der Schwester reicht es. Sie packt einen kleinen Rucksack und sagt Mama, dass sie geht, um sich eine neue Familie zu suchen. Mama sagt jaja und Tschüß – und im Hinausgehen, das Mädchen möge nicht vergessen zum Abendessen zurück zu sein. Ein Pappkarton wird beschriftet: «Kind zu verschenken», und sie setzt sich am Straßenrand hinein und wartet … Wundervolles Bilderbuch ab 6 Jahren über die Gefühle zu sprechen, wenn vom Thron des Einzelkinds gestoßen wird. Weiter zur Rezension:    Kind zu verschenken! von Hiroshi Ito

Rezension - Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

  Ein Bilderbuch, in das man sich sofort beim ersten Durchblättern verliebt, ohne den Text gelesen zu haben. Und das liegt an den eindrucksvollen Illustrationen von Anita Kreituses. Es war einmal ein Junge, klug, klein und zierlich, der jüngste Sohn einer armen Bauernfamilie. Ständig malte er Katzen. Seine Eltern gaben ihn als Altardiener in den Tempel zur Ausbildung, weil sie meinten, der Junge sei für die schwere Hofarbeit nicht geeignet. Er war aufmerksam und fleißig, und er malte viel, aber immer nur Katzen und das überall. Dem Priester ging er damit auf die Nerven und er schickte ihn fort. Ein Kinderbuch, das jeden Katzen- und jeden Märchenfan begeistern wird. Japanische Kultur, japanischer Mythos – ein gelungenes Bilderbuch für die Abteilung Lieblingsbuch.  Weiter zur Rezension:    Der Junge, der Katzen malte von Lafcadio Hearn und Anita Kreituses

Rezension - Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

  Wo sie uns im Alltag begegnet und wie sie funktioniert Was ist eigentlich künstliche Intelligenz? Sie ist ständig um uns herum, ohne, dass wir sie bemerken. Morgens weckt und der Wecker, den wir gestellt hatten, die programmierte Heizung ist bereits hochgewärmt, auf dem Smartphone sind E-Mail, Whatsapp usw. eingegangen, wir spielen unsere Playlist, während die Zahnputzapp das Zähneputzen begleitet und die Rollladen automatisch hochfahren. Das Smartphone erinnert, an die Hausaufgaben, die einzupacken sind usw. Big Data, Deep Learning, KI, Roboter, Chat, Halo-Effekt, AI, Chatbot, Sprachassistenz, Maschinelles Lernen, Computerprogramme, Neuronale Netze, Datenschutz, Programmieren, Internet verständlich für Kinder ab 8 Jahren erklärt, mit allen Vorteilen und Tücken. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Was ist Künstliche Intelligenz? von Angelika Zahn und Lena Hesse

Rezension - Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

  Saisonal kochen das ganze Jahr. 100 Rezepte, über 300 Varianten Gemüse satt - das ganze Jahr, möglichst regional! Mit über 100 alltagstauglichen Gemüserezepten und unzähligen Tausch-Optionen begeistert dieses Kochbuch nicht nur Gemüsekisten-Fans. Die Kapitel sind nach Monaten aufgeteilt, die Saisongemüse aufgezählt. Ob knusprige Rösti aus Kartoffeln und schwarzem Rettich, gebratener Rhabarber mit Ziegenkäse oder Wirsing-Pasta mit Nussbröseln. Stefanie Hiekmann zeigt, wie man das Beste aus seiner Gemüsekiste herausholt, alles verwertet und saisonale Schätze haltbar macht. Einfach, nachhaltig, gesund und lecker! Die Rezepte sind einfach, also für Anfänger optimal, für den versierten Koch voller Anregungen. Absolute Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Das Gemüsekisten-Kochbuch von Stefanie Hiekmann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada