Direkt zum Hauptbereich

Die Nachricht von Doris Knecht - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



Die Nachricht 


von Doris Knecht

Gesprochen Vera Teltz
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 42 Min.


Der Anfang: 

Die erste Nachricht kam an einem Sonntag im September. Ich saß auf der Bank im Schatten hinter dem Haus und rauchte eine Zigarette, Laptop auf den Knien, und ich ahnte nicht, dass das der Moment war, in dem sich meine Verhältnisse verschoben, erneut, ganz leicht nur.


Rut Ziegler, eine Drehbuchschreiberin und Journalistin, einst als TV-Moderatorin, erhält von Unbekannt eine Nachricht über den Facebookmessenger: «Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemannes?» Natürlich weiß sie das! Was soll diese Info? Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in dem Holzhaus auf dem Land, das Ludwig selbst gebaut hatte. Mit dem Tod von ihm wurde sein Geheimnis aufgedeckt: Er hatte eine Freundin und wollte Ruth anscheinend verlassen. Mit der Jüngeren ein neues Leben aufbauen. Nun folgen weitere Nachrichten, Beleidigungen. Immer wieder dämonisierende Nachrichten, jeden Tag, es werden immer mehr. «Wirst noch merken, wie allein du bist, du eingebildete Kuh», sind harmlose Kommentare. Auch ihre Freunde erhalten misogyne Mitteilungen über sie, Verleumdung, Beschimpfungen. Wer ist dieser Nachrichtenschreiber? Oder ist es eine Frau? Zumindest weiß dieser Mensch sehr viel über ihr Privatleben. Nicht beachten! Dann hört es auf, denkt sie.


Lästig, aushalten, nicht beachten! 


Als Ludwig starb, dachte ich, mir könne nicht mehr viel passieren. Ich fühlte mich sicher. Ich hatte überlebt, dass mein Mann gestorben war, was sollte noch geschehen. Das glaubte ich damals jedenfalls.


Fakenews, Lügen, die im Umfeld erzählt werden, und immer die Frage: Wer ist es? Niemandem aus ihrem Freundeskreis traut sie es zu. Vielleicht ihre Fastnachfolgerin, die so mit dem Tod von Ludwig umgeht? Oder die Nachbarin, oder, oder ... Der Stalker macht weiter, schreibt und schreibt. Sie spürt die Blicke der Nachbarn, der Freunde und Kollegen, unausgesprochene Zweifel an ihrer Person bleiben hängen; man leitet die Nachrichten an sie weiter. Es muss doch etwas dran sein! Je öfter das Gleiche behauptet wird, um so mehr wird es zur Wahrheit. Ruth holt sich Rat. Man kann nichts machen, denn der Absender wechselt ständig die Identität, ist nicht zu ermitteln und eigentlich sagt der Schreiber nichts Strafrelevantes. Das mögen Lügen sein, die Beleidigungen halten sich unter dem Radar, auch wenn sie treffen und versuchen, sie zu erniedrigen. Ruth mag den Menschen als Stalker definieren – aber rechtlich ist er keiner. Lästig, aushalten, nicht beachten! Eines Tages wird es garantiert aufhören. Aber der Schreiber macht immer weiter – auch mit den Nachrichten an ihr Umfeld. Woher her weiß der / die das alles? Ihre Freunde sind genervt. Irgendwann mag auch keiner mehr mit Ruth über das Thema reden. Die einzige, mit der sie sich austauschen kann, ist ihre Freundin, eine Psychotherapeutin. Aber auch die will sie nicht ständig belästigen. Sie trifft sich mit Simon Brunner, die Beziehung ist fragil, wird immer wieder unterbrochen; Ruth kommt zum Schluss, der Mann ist nicht beziehungsfähig. Doch er zieht sie an, wie das Licht die Motte. Der Therapeut ist ein guter Zuhörer, auch mit ihm kann sie sich über den Stalker austauschen; man bleibt ja in Freundschaft verbunden. Ruth will nicht alles in sich allein reinfressen. In einem zweiten Strang geht es um Ludwigs Tochter, die bei Ruth und Ludwig aufgewachsen ist. Die junge Frau hat ein Kind bekommen; nur möchte sie kein Wort über den Vater äußern. Ruth hat ein gutes Verhältnis zu ihr, will sie auch nicht drängen, auch wenn sie ahnt, dass wesentlich mehr hinter diesem Schweigen steckt.


Eine starke Frau mit Schwächen


Es fordert Leute heraus, wenn sie deine Stärke spüren und deine Unabhängigkeit und manche von ihnen wollen dir das dann wegnehmen. Sie wollen dir zeigen, dass du gar nicht so stark bist und so unabhängig, wie du glaubst. Und sie beginnen ein Kräftemessen, ihre Kraft gegen deine, ohne dass du es merkst, und dann merkst du es.


Frauenverachtung und digitale Gewalt, eine starke Frau wird verleumdet. Vorurteile gegen unabhängige Frauen sind hier fein verpackt, Frauen die eine Haltung haben, sich nicht klein machen lassen. Dieser Schreiber will Ruth heulen sehen, psychisch fertig machen. Doch sie probiert es mit Gelassenheit: Spinner, hört irgendwann wieder auf. Aber der hier macht weiter, versucht sie in ihrem Umfeld zu diffamieren, erzählt immer wieder die gleichen Lügen, wobei er sehr tief in ihr Privatleben greift. Er versucht sie als Schlampe darzustellen, die alles vögelt, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, eine, die hinter jedem Mann her ist, die alle vor den Kopf stößt, die gewissenlos ist, Männer belästigt, eine die viel zu laut ist. Männliche Attribute. Eine Ruth, die sich nicht knicken lässt, was den Stalker ärgert, weil sie ihm den Stinkefinger zeigt, nie auf seine Nachrichten reagiert. Die Ich-Erzählerin erzählt von Misogynie im Alltag, auf der Straße, im Berufsleben. Eine Frau, die dem trotzt. Eine Ruth auf der Suche nach dem Urheber der Nachrichten, Detektivarbeit, ein Whodunnit im weitesten Sinn. Sie wird am Ende den Stalker identifizieren. Die Autorin wird ihn an seiner Sprache erkennen. Die Ich-Erzählerin steht häufig im Widerspruch mit sich selbst. Ihre Ehe war zu Ende – das hatte sie selbst festgestellt, wollte Ludwig verlassen – und doch trauert sie um das Familienleben, wünscht sich Ludwig zurück, seine Stabilität – gerade jetzt. Sie weiß, dass Simon nicht der richtige Mann für sie ist, hält ihn auf Abstand, wenn er sie erniedrigt. Doch immer wieder lässt sie sich auf ihn ein. Eine starke Frau mit Schwächen. Literarisch gut aufgebaut mit feinen Leerstellen, eine prägnante Sprache, ein spannender Roman.



Doris Knecht 
Die Nachricht 
Gesprochen Vera Teltz
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 6 Std. und 42 Min.
Zeitgenössische Literatur, Stalking, Mysogenie, #meetoo, Whodunnit
Argon Verlag, Audible, 2021
Hanser Verlag, 2021, gebunden, 256 Seiten



Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension -MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

  Die Entstehungsgeschichte der Menschheit als spannende Comic-Sachgeschichte präsentiert – lehrreich und humorvoll verpackt! Woher kommen wir? Wer waren unsere Vorfahren? Und ab wann lernten sie, mit Werkzeugen umzugehen? Diese Graphic Novel nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch die Evolution der Menschen, indem wir ihnen sozusagen hautnah begegnen. Wissenschaft meets Comic, Historische Fiction – Sachkinderbuch ab 10 Jahren, über die Evolution der Menschen – klasse gemacht! Empfehlung auch als Unterrichtsmaterial! Weiter zur Rezension:    MENSCH!: Eine Zeitreise durch unsere Evolution von Susan Schädlich, Michael Stang und Bea Davies

Rezension - Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

  Ein herrlich spaßiger, spannender Kinderkrimi! Mit Papa und seiner neuen Flamme in die Berge zum Wandern oder zu Oma Lore. Keine Frage! Bei der fetzigen Lore ist es immer lustig. Jetzt sitzt Pia aber seit über einer Stunde auf dem Bahnhof, ohne dass Oma sie abgeholt hat. Sehr seltsam. Omas Haus ist nicht weit entfernt; und so macht sich Pia mit ihrem Rollkoffer auf den Weg. Niemand öffnet die Tür! Durch ein offenes Fenster gelangt sie hinein. Doch Oma bleibt verschwunden. Die Detektivarbeit beginnt … Ein Pageturner, ein Kinderroman, eine waschechte Heldenreise, ein rasanter Abenteuerroman und nervenkitzelnder Kinderkrimi ab 8-10 Jahren. Unbedingt lesen!  Weiter zur Rezension:   Ist Oma noch zu retten? von Marie Hüttner

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Spanischer Totentanz von Catalina Ferrera

Der erste Barcelona-Krimi, »Spanische Delikatessen«, von Calina Ferrera hatte mir als Hörbuch gefallen: leichte Story mit Lokalkolorit, feiner Humor, spannende Geschichte. Leider konnte mich der zweite Band nicht überzeugen. Weder Spannung noch ein Gefühl für die Stadt kam auf. Touristische Beschreibungen und Restaurantbesuche lähmen eine durchschaubare Kriminalgeschichte, die die Mossos d’Esquadra auf den Cementiri de Montjuïc und die Zona Alta führt. Weiter zur Rezension:    Spanischer Totentanz von Calina Ferrera