Direkt zum Hauptbereich

Waldeck von Jürgen Heimbach - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing





Waldeck 


von Jürgen Heimbach


‹Frau Lachmann treffen?›
‹Ja. Und ich werde mir diesen Tromnau alias Fischer anschauen.›
‹Broich. Ich will Sie warnen. Diese Menschen haben viel zu verlieren. Sie haben gezeigt, dass ihnen Menschenleben nichts bedeuten. Auch als Ärzte nicht.›

1964, Journalist Ferdinand Broich ist an einer neuen Story dran, er recherchiert speziell nach ehemaligen Kriegsverbrechern: Eine Überlebende aus einem KZ will einen damaligen SS-Arzt auf der Straße erkannt haben, der an Experimenten an den Insassen beteiligt war – und er trägt einen neuen Namen. Doch als Broich die Zeugin Lachmann wenige Tage später auft, ist die bereits tot. Altersschwäche, so der Arzt - doch Broich geht von einem Mord aus. Eine gefährliche Suche nach der Wahrheit beginnt, in einem Deutschland, dessen dunkle Vergangenheit noch bedrohlich nahe ist.


Warum hatte der Vater seinen Nachnamen gewechselt?

Fleckfieberversuche gab es, Gefangene wurden mit Gelbfieber, Diphtherie, Typhus, cholera und Malaria infiziert. An all dem waren Ärzte beteiligt. Silvia nickte beklommen. Eine Frau am Nebentisch sah herüber, schüttelte den Kopf. ‹Und … Zahnärzte …?›, hakte sie nach.

Silvias Weg ist vorbestimmt durch ihren Vater, der ihr einen Verlobten ausgesucht hat, sie sollen bald heiraten und Silvia soll den Weg der Hausfrau einschlagen. Sie möchte aber Kunst studieren, ihren eigenen Weg gehen. Als sie einen Aktenkoffer mit alten Unterlagen ihres Vaters findet, ist sie schockiert. Was hat ihr Vater im Krieg gemacht – auch noch andere Dinge als Soldaten Zähne zu ziehen? Sie schnappt sich den Koffer und haut ab nach Frankfurt zu einer Freundin. In ein paar Tagen ist sie 21 Jahre alt und volljährig – frei. 


Die alten Täter sitzen wieder fest im Sattel

Die jungen Leute zieht es auf das Waldeck-Festival, wo eine junge Generation mit Gitarren und Folksongs aufbegehrt: gegen den Starrsinn der Alten und die verbohrten Strukturen der Nachkriegszeit. In einem der größten Prozesse der deutschen Nachkriegszeit wurden ab dem 20. Dezember 1963 in Frankfurt die NS-Verbrechen von Auschwitz verhandelt. Zeitgleich debattierte die Öffentlichkeit über die Verjährung nationalsozialistischer Taten. Silvia verfolgt das durch die Presse, lernt im Club Voltaire interessante Leute kennen. Die meisten jungen Menschen erfuhren erst dadurch was das NS-System angerichtet hatte. Ich selbst war zu dieser Zeit 5 Jahre alt und ich hatte später einen Geschichtslehrer, der die KZ’s verleugnete. Andere erzählten aus dem Krieg – wie ich meinen Arm verlor … – der Elefant stand im Raum, außer Kriegsanekdoten nichts gewesen. Aber wir hatten auch junge, engagierte Lehrer, die mit uns in die KZ’s fuhren, uns berichteten, was sie selbst in Kleinarbeit herausgefunden hatten. Unsere Eltern waren zu jung bei Kriegsende, aber sie fragten auch nicht und die Großeltern hatten nur Anekdoten, verfielen wie der Rest der Nation ins kollektive Schweigen. «Irgendwann muss es doch auch mal gut sein.» Eine Jugend wollte Antworten und verstand: die alten Täter sitzen wieder fest im Sattel. Stück für Stück wurde aufgedeckt («Beate und Serge Klarsfeld – Die Nazijäger von Pascal Bresson und Sylvain Dorange»), wer hier an der Macht war. Rebellion – junge Menschen, die die alten Traditionen abstreiften, auf die Straße gingen, demonstrierten, Frauen, die für Gleichberechtigung, für ihre Eigenständigkeit kämpften. Leider kam damals viel zu wenig über die schmutzigen Geschäfte der alten Eliten heraus – viele Dinge kamen erst viel später ans Licht. Siehe «Hitlers Eliten nach 1945 von Norbert Frei»  (Sachbuch) oder «Gnadenlos Deutsch – Fünf Dossiers von Helmut Ortner». 

Dieser historische Krimi hier nimmt uns atmosphärisch mit in die Nachkriegszeit. Zeigt auf, wie verlogen die Menschen miteinander umgingen, ein kollektives Schweigen, Lügen, was die Jugend sich nicht gefallen lassen wollte. Hier entsteht eine neue Generation: sehnsüchtig, offener, demokratischer, aufsässiger und kritisch. Kommen wir zum Krimi zurück. Täter, die gesucht werden – bzw. von ihren Kumpels als tot erklärt werden, unter neuem Namen weiterleben. Gruppen, die sich gegenseitig decken. Realität! Und wehe, man kommt ihnen auf die Spur! Das kann gefährlich werden. Zwei Stränge, die zusammengeführt werden, die die 60-er beschreiben, dekadenter Muff gegen die Moderne, die Rebellion mit langen Haaren wie Gammler bei N…musik und Friedenssongs und «be sure to wear some flowers in your hair» – die APO. Generationen, die ein tiefer Graben trennt, was bereits mit der Musik beginnt, ein Graben, der nicht tiefer und breiter sein kann. Ein interessantes Thema, das in einen spannenden Krimi eingebunden ist. Empfehlung!


Jürgen Heimbach, geboren 1961 in Koblenz, studierte nach einer kaufmännischen Ausbildung Germanistik und Philosophie, betrieb in Mainz ein Off-Theater und gründete die Künstlergruppe V-I-E-R, mit der er Ausstellungen organisiert. Heute arbeitet Heimbach als Redakteur für 3sat. Sein Werk umfasst Romane, Jugendbücher und kriminalistische Kurzgeschichten. Sein Roman Die Rote Hand wurde 2020 mit dem Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Kriminalroman ausgezeichnet. Heimbach lebt mit seiner Familie in Mainz.




Jürgen Heimbach
Waldeck 
Krimi, Kriminalroman, Kriminalliteratur, Nachkriegszeit, NS-Verbrechen
Taschenbuch, 352 Seiten
Unionsverlag, 2024




Die Rote Hand von Jürgen Heimbach

Ein spannender historischer Noir-Thriller, der die Morde an den deutschen Waffenhändlern Otto Schlüter und Georg Puchert einbindet. Frankfurt in der Nachkriegszeit Ende der Fünfziger, Wiederaufbau, Wasserhäuschen. Der  Algerienkrieg der Franzosen ist das Thema, der als Krieg nicht bezeichnet werden darf, Waffengeschäfte, Anschläge des französischen Geheimdienstes, »La main rouge«. Attentate, mitten in Deutschland, ungeahndet, wegen der Diplomatie …

Weiter zur Rezension:   Die Rote Hand von Jürgen Heimbach



Vorboten von Jürgen Heimbach

In seinem Kriminalroman «Vorboten» fängt Jürgen Heimbach die Stimmung der Zwischenkriegszeit am Rhein auf, die deutschnationalen Strömungen die sich zu einer großen Vereinigung der Nationalsozialisten später zusammenfügen werden. Unzufriedenheit am Rhein, besetzt von den Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg. Nur wenige Männer kamen aus dem Krieg heim, wer zurückkehrte, war entweder verletzt oder traumatisiert, meist beides. Von den Franzosen durch den Versailler Vertrag dranglisiert, von der «Schwarzen Schmach vom Rhein» keimt Nationalismus auf. 1920 kehrt Wieland Gröth nach sieben Jahren Abwesenheit zurück ins Dorf. Was will er hier? Guter historischer Kriminalroman mit kleinen Schwächen.

Weiter zur Rezension:   Vorboten von Jürgen Heimbach



Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Der Freund von Tiffany Tavernier

  Mit dem Haus im Grünen hat sich Thierry einen Traum erfüllt. Zusammen mit Élisabeth genießt er die Ruhe und Abgeschiedenheit des Wohnens nahe einem Wald. Die einzigen Nachbarn weit und breit, gleich nebenan, Guy und Chantal. Eins Tages im Morgengrauen stürmt die Polizei das Gelände. Die Nachbarn und gute Freunde, werden in Handschellen abgeführt. Was haben sie getan? Journalisten belagern das Gelände. Ein psychologischer Kriminalroman , der sich mit den Folgen der «Opfer» befasst, denn letztendlich sind die schockierten Freunde auch Opfer des Massenmörders. Weiter zur Rezension:    Der Freund von Tiffany Tavernier

Rezension - Yrsa von Alexandra Bröhm

  Journey of Fate (Yrsa. Eine Wikingerin 1)  Yrsa ist eine junge Wikingerin , die sich nach dem Tod der alleinerziehenden Mutter seit vier Jahren allein um ihrem Bruder Sjalfi kümmert. Als sie eines Tages von der Jagd nach Hause kommt, ist Sjalfi verschwunden. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche und den gefährlichen Weg nach Haithabu . Denn es heißt, es würden Kinder entführt und versklavt. Unterwegs lernt sie Krieger kennen. Ihr Traum war immer schon, eine Kämpferin zu werden. Der Krieger Avidh hat es ihr besonders angetan. Ich würde den Roman ins Genre Young Adult einordnen. Wer softe Literatur, einen Liebesroman zur Entspannung mag, liegt hier richtig.  Weiter zur Rezension:    Yrsa von Alexandra Bröhm

Rezension - Rath von Volker Kutscher

  Gelesen von David Nathan Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 21 Std. und 49 Min. Gereon und Charlotte Rath warten im Herbst 1938 nur noch auf den richtigen Moment, Deutschland zu verlassen, um nach Amerika zu gehen. Sie treffen sich heimlich in Hannover , denn Charly lebt immer noch in Berlin und Gereon, der als verstorben gilt, wohnt inkognito in Rhöndorf am Rhein , weil er seinen im Sterben liegenden Vater nicht im Stich lassen will. Charly sucht ihren ehemaligen Pflegesohn Fritze, der ausgerissen ist und unter Mordverdacht steht. Als sich die Lage zuspitzt, muss Gereon sein Versteck verlassen und Charly zu Hilfe kommen, nach Berlin reisen. Der 10. und letzte Band der Gereon Rath-Reihe - wie immer hochspannend, historisch gut recherchiert. Noirliteratur , ein feiner literarischer Krimi ! Empfehlung!  Weiter zur Rezension:    Rath von Volker Kutscher