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Oh, William! von Elizabeth Strout - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Oh, William! 


von Elizabeth Strout


Der erste Satz: 

Ich muss noch etwas über meinen ersten Mann sagen, William.


Lucy Barton (die Heldin aus den Romanen «Die Unvollkommenheit der Liebe» und «Alles ist möglich») erzählt wieder aus ihrem Leben. Sie ist Witwe, ihr zweiter Mann David ist verstorben und sie kommt gut alleine klar. Schon lange führt sie mit ihrem ersten Ehemann William, nun Anfang siebzig, ein fast freundschaftliches Verhältnis. Sie telefonieren häufig miteinander, rufen sich gegenseitig an, wenn sie einen Rat benötigen. Denn obwohl sie neue Partnerschaften fanden, blieb ein fester Draht der Verbundenheit, schon über die Töchter und Familienfeste. Lucy erzählt während der Handlung immer rückblickend auf ihr Leben, auf das gemeinsame Eheleben; ihre Schwiegermutter ist darin ein wichtiger Anker. Doch dann erschüttern zwei Ereignisse William fast gleichzeitig und er entschließt sich, in der Familienvergangenheit zu forschen, bittet Lucy, ihn auf seiner Reise zu begleiten. Ein Roadmovie, ein zartes Herantasten an alte Gefühle.


Eine Lebensbilanz


Aber im Kern bleiben wir alle Geheimnisse. Mythen. Wir sind alle gleich unerforschlich, das will ich damit sagen.


Man könnte diesen Roman als Lebensbilanz eines alten Paares bezeichnen. Elisabeth Strout ist eine scharfe Beobachterin, und so beschwingt-melancholisch man durch die Seiten fliegt, erkennt man irgendwann die raffinierten Erzählkonstruktion, die in der Gradlinigkeit immer wieder spannende Ausschläge hat, aufdeckt. Die Figuren sind komplex und die Autorin schafft es, in diese Geschichte, in der eigentlich nicht viel passiert, enorme Spannung hineinzubringen, und einen Trompetenstoß ins Ende zu legen. 


Die Angst, Erwartungen nicht erfüllen zu können

Die Urangst, allein zu sein oder zu scheitern, trägt die Geschichte. Lucy, die aus bitterarmen Verhältnissen stammt und es dank eines Stipendiums und der Hilfe ihrer Lehrerin es zum Universitätsabschluss schaffte, war bereits als Studentin mit dem Assistenten William ein Paar. Ihre Eltern waren lieblos, «Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter je irgendeines ihrer Kinder berührt hätte, außer um es zu schlagen.», wer gelogen hat, dem wurde der Mund mit Seife ausgewaschen. Nichts zieht sie zurück zu dieser Familie. Schwiegermutter Cathrine hat sich ihrer angenommen. Noch nie hat sich Lucy in Gesellschaft von reichen Menschen wohlgefühlt, da sie nie weiß, was man von ihr erwartet, ihre Herkunft wird sie nie ablegen können. Protz ist ihr zuwider. Sehr eindrucksvoll geschildert ist ihr erster Urlaub, mit William und Cathrine auf den Caimans, umgeben von Servicepersonal, Swimmingpoolleben – eine Lucy, die panisch versucht, ihr Zimmer wiederzufinden, völlig überfordert ist, besonders, sich bedienen zu lassen. Trotz aller Herzlichkeit entpuppt sich die Schwiegermutter als reichlich übergriffig. Lucy, die ihr Leben lang von Angst getrieben wurde, nicht ohne Schlaftabletten einschlafen kann; erst David hat ihr Ruhe gegeben.


Es gab Zeiten in unserer Ehe, da habe ich ihn verabscheut. Ich spürte mit einem Grauen, das sich wie ein dumpfer Ring um meine Brust legte, dass da hinter seiner liebenswürdigen Distanz, hinter seiner sanften Art eine Mauer war. Nein, schlimmer noch: Unter dieser geballten Liebenswürdigkeit lauerte etwas Infantil-Mürrisches, über seine Seele huschte gleichsam ein Schatten, und ich sah einen dicklichen kleinen Buben mit vorgeschobener Unterlippe vor mir, der die Schuld bei anderen suchte, bei dem und bei jenem - er gab die Schuld mir, hatte ich oft das Gefühl, er machte mich für Dinge verantwortlich, die mit unserem jetzigen Leben nicht zu tun hatten.


Wichtige Gespräche mit Lucy

Lucys Vater hat im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft, kam traumatisiert nach Hause zurück, er hat die Gaskammern von Dachau kennengelernt. Williams Vater war ein deutscher Soldat, ein Kriegsgefangener, der als Zwangsarbeiter auf den Kartoffelfeldern von Maine schuften musst; wo er Cathrine kennenlernte. Er ging zurück nach Deutschland am Ende des Krieges, kehrte zurück und wurde ein betuchter Bauingenieur. Cathrine hatte für ihn ihren ersten Mann verlassen. Niemals würde Lucys Vater diesem Feind die Hand geben. Williams Großvater, ein deutscher Kriegsgewinnler, hat dem ihm eine Stange Geld vererbt. Doch letztendlich nagt es an der Seele des Enkels, dass er es angenommen und behalten hatte, anstatt zu spenden. Lucy und William führen eine gute Ehe – rein oberflächlich gesehen. Doch als Lucy herausbekommt, dass William sie seit längerem betrügt, gehen auch andere Schubladen in ihrem Kopf auf. Die Töchter sind aus dem Haus und so verlässt sie ihren Mann. Er ist perplex – heiratet aber schnell die Geliebte, eine Ehe nicht gut funktionieren wird. Seine Frau verstirbt auch nach ein paar Jahren. Lucy ist nun glücklich mit David. Und William heiratet wiederum schnell: eine junge, sehr attraktive Frau, die das Alter der Töchter hat. Doch plötzlich plagen William nächtlichen Angstattacken, er wacht in Panik auf, kann nicht mehr einschlafen. Es gibt keinen ersichtlichen Grund dafür. Er spricht mit Lucy darüber.


Oh, William

Fein ausgewogene Charaktere mit Stärken, Schwächen und Geheimnissen. «Oh, William» oder ein ach –  ein humorvoller, liebevoller Kommentar von Lucy – es wird auch selbstkritisch, nicht bei William bleiben. Der Roman liest sich wie ein gemütliches Gespräch auf dem Sofa. Lucy resümiert über ihr Leben und das derer, die ihr nahe stehen. «William, du hast deine Mutter geheiratet.», darum hängst du immer noch an ihr, oh William! Ein kluger Roman, Empfehlung!


Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Für ihren Roman »Mit Blick aufs Meer« bekam sie 2009 den Pulitzerpreis. »Die Unvollkommenheit der Liebe« wurde für den Man Booker Prize 2016 nominiert. »Alles ist möglich« wurde 2018 mit dem Story Prize ausgezeichnet, erhielt ein überwältigendes Presseecho in den USA und stand in allen großen Medien auf den Empfehlungslisten. Die Übersetzungsrechte ihres neuen Romans wurden in bisher 17 Länder verkauft. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.



Elizabeth Strout 
Oh, William!
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Roth
Roman, amerikanische Literatur, zeitgenössische Literatur
Hardcover, 224 Seiten
Luchterhand Verlag, 2021




Alles ist möglich von Elisabeth Strout

Es braucht kein großes Ereignis, um einen guten Roman zu schreiben. Das Leben bietet Geschichten genug. Letztendlich ist dieser Roman eine Vernetzung von Kurzgeschichten. Eine Kleinstadt im ländlichen Mittleren Westen, Amgash, Illinois, ist der zentrale fiktive Ort. Menschen, Schicksale, Protagonisten, die sich immer mal wieder kreuzen. Alles ist möglich, wenn man es tut – oder unterlässt, zulässt. Der eine ist mutig, der andere ist ein Zauderer, dem nächsten passiert einfach etwas und wieder ein anderer ist boshaft. Elisabeth Strout hat die Gabe, Menschen zu beobachten, die Essenz der Schicksale zusammenzufassen.


Die langen Abende von Elizabeth Strout 

Ein  Roman, der von Liebe und Verlust erzählt, vom Altern und der Einsamkeit, Schicksalsschlägen,  Hoffnungslosigkeit und auf der anderen Seite Lebensfreude und Hoffnung. Vielleicht nicht unbedingt ein Buch für junge Leser. Wer gern Romane liest, die das Leben schreiben, der wird sich wie ich amüsieren. Olive Kitteridge, eine pensionierte Lehrerin Anfang siebzig, Witwe, die sich gern in die Angelegenheiten von anderen einmischt. Zurückhaltung und Feingefühl sind nicht ihre Tugend. Jack Kennison, einst Harvardprofessor, Witwer, hat ein Auge auf sie geworfen. Olive, spröde und zynisch, aber doch das Herz auf dem richtigen Fleck, nervtötend in ihrer ständigen Hilfsbereitschaft. Genau das gibt dank des schwarzen Humors und der Situationskomik der Traurigkeit vieler Szenen etwas Komisches. Empfehlung!

Weiter zur Rezension: Die langen Abende von Elizabeth Strout 


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