Direkt zum Hauptbereich

Marzahn, mon amour von Katja Oskamp - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Marzahn, mon amour 

von Katja Oskamp


Der Anfang: Ich erzählte zuerst niemandem von meiner Umschulungsaktion. Als ich es dann doch tat und lachend mit dem Zertifikat wedelte, schlugen mir Ekel, Unverständnis und schwer zu ertragendes Mitleid entgegen. Von der Schriftstellerin zur Fußpflegerin — ein fulminanter Absturz. Mir fiel wieder ein, wie sie mir auf die Nerven gegangen waren mit ihren Köpfen, Gesichtern und gut gemeinten Ratschlägen. Ich konnte nicht auf sie warten.

Seit vier Wochen drücke ich mich um diese Rezension – ich will dem Buch gerecht werden, denn jede einzelne Geschichte ist gut. Katja Oskamp kann erzählen, keine Frage. Die Kurzgeschichten lösen Begeisterung bei vielen Lesern aus, die andere Hälfte der Leserschaft ist irgendwann gelangweilt. Ich zähle leider zu den Letzteren, habe ab der Mitte nur noch quergelesen. Woran liegt das? – Denn jede Geschichte für sich allein ist prima. Wir haben es hier mit einer Fußpflegerin zu tun, die eigentlich Schriftstellerin ist, eine erfolglose. Der Mann ist krank, die Kinder sind groß, der Rubel muss rollen. So entschließt sich die Vierundvierzigjährige, Fußpflegerin zu werden. Nach bestandenem Diplom beginnt sie im Berliner Stadtteil Marzahn zu arbeiten. Humorvoll erzählt sie von ihren Klienten, Berliner Mundart eingeschlossen, was den Text sehr sympathisch macht. Alles was sie zu ihrer Arbeit beschreibt ist empathisch, interessant und ruft bei manchem Leser sicher Gruselbilder in den Kopf auf. Mutter Noll lebt im Altersheim, sie ist über neunzig, redet nicht mehr gern, selbst ein Gespräch ist zu anstrengend für sie. Vorsichtig bearbeitet die Fußpflegerin ihre zarten Füße, denn selbst ein sanfter Druck könnte ihr Schmerzen verursachen. Entspannt bei der Massage kommen ihr ihr dann doch ein paar Laute aus dem Mund: «Schööön!» - «An Mutter Nolls Füßen gibt es wegen der Käfighaltung keine Hornhaut.» Das sind dann Sätze, die das Herz klopfen lassen, gigantisch gut!
Gelbe, blättrige Fußnägel schneiden, Krusten um die Nagelfalze einweichen, Hornhaut hobeln, Hammerzehen, eine Tätigkeit, die in die Arme geht.

Menschen wie du und ich

Wie macht sie den? Mit Kartoffeln und Sauerkraut. Und das Fleisch? Gleich kommt’s, meine allerliebste Stelle in der gesamten Sitzung.
‹mit de Brotschneidemaschine, den Kassler koof ick im Stück, und denn schneid ick den mit de Brotschneidemaschine, mit de Brotschneidemaschine schneid ick den schön in Scheiben, den Kassler, ja, da staunse, mit de Brotschneidemaschine mach ick dit.›
‹mit der Brotschneidemaschine?›, rufe ich begeistert, bin perplex und von den Socken, absolut platt und total baff.
‹Ja›, sagt sie wie eine Adlige,  ‹mit de Brotschneidemaschine.

«Ganz unten bei den Füßen angelangt», hat mich das Buch zunächst gepackt. Mit Frau Guse hält die Fußpflegerin jede Sitzung den gleichen Dialog um den Kasslerbraten am nächsten Sonntag. Mit viel Einfühlungsvermögen tritt die Fußpflegerin ihren Kunden entgegen. Neben Beschreibung der Füße, Krankheiten, entwickelt sich zu jeder Person ein Lebenslauf. Ein Leben auf ein paar Seiten, Einzelschicksale komprimiert, Menschen wie du und ich. Rammelbruder Pietsch, ein ehemaliger SED-Kader, ziemlich in die Jahre gekommen, macht auch der Fußpflegerin widerliche Angebote, wird dann irgendwann auch noch übergriffig. Sie setzt ihn vor die Tür. Ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse, hat 51 Frauen gebumst, er hat mitgezählt – solche gibt es. Das war eine Stelle, an der ich ein wenig die Lust verlor. Ex- Parteifunktionär, muss obendrein ein Widerling sein. Zuviel Klischees auf einmal. Aber vielleicht stimmt es: Der Mann, der früher die Macht in den Händen hielt, glaubt, sie noch heute zu besitzen. Aber die Klischees tauchen nicht nur hier auf. Kurze Geschichten, kurze Lebensläufe von ganz normalen Menschen. Anfänglich hatte es mich gepackt, doch dann kippte es bei mir – es kam nichts Neues, nichts über das ich weiter nachdenken muss. Einen Menschen auf ein paar Seiten festzuzurren, aus den Erinnerungen des Alters, das war mir zu kurz, zu oberflächlich in der Masse. Empathisch geschrieben, humorvoll mit einer Menge erzählerischer Kraft, ohne Frage, hat es bei mir leider Nur bis zur Hälfte gereicht. Vielleicht hätte ich das Buch nicht am Stück lesen dürfen. Meine Empfehlung: Jede Woche eine Geschichte lesen, dann passt es.

Autobiografisches eingeschlossen

Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das du zusteuerst, erkennst du noch nicht deutlich genug. In diesen Jahren strampelst du in der Mitte des großen Sees herum, gerätst außer Puste, erschlaffst ob des Einerleis der Schwimmbewegungen. Ratlos hältst du inne und drehst dich dann um dich selbst, eine Runde, noch eine und noch eine. Die Angst, auf halber Strecke unterzugehen ohne Ton und ohne Grund, meldet sich. Ich war vierundvierzig.

Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete sie als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Die Schriftstellerin hat Stipendien und Literaturpreise gewonnen, darunter 2007 der Anna-Seghers Preis der Akademie der Künste Berlin. Nachdem 2015 eine Reihe von Verlagen ihr neuestes Buch ablehnte, geriet sie in eine Schaffenskrise. Sie schulte um, wurde Fußpflegerin in Marzahn. Fußpflegerin und Schriftstellern. Das Buch hat demnach autobiografische Züge.


Katja Oskamp 
Marzahn, mon amour
Geschichten einer Fußpflegerin
Kurzgeschichten
Hanser Verlag, gebunden, 148 Seiten

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Das Nest von Sophie Morton-Thomas

  Ein Küstenort in Großbritannien, wo das Marschland auf den Ozean trifft, wo Vögel die bessere Gesellschaft sind, lebt Fran eine ereignislose Routine. Sich um den Campingplatz kümmern, der mit Mobilheimen ausgestattet ist, ihren Sohn von der Schule abholen, Abendessen kochen. Mit Dom, ihrem Mann, läuft es nicht mehr so, ihre Schwester lebt mit ihrer Familie in einem Wagen, zahlt keine Miete, dem Schwager hatte sie den Entzug finanziert und jetzt trinkt er wieder, hat keine Arbeit. Freude findet Fran nur an den verschiedenen Vogelarten, die sie am Strand beobachten kann; sie hat auch ein Häuschen zur Beobachtung finanziert. Und nun entdeckt sie ein Nest mit einer seltenen Vogelart, hofft, dass die Jungen ausschlüpfen werden. Und verschwindet die Lehrerin … Ein leiser Thriller. Weiter zur Rezension:    Das Nest von Sophie Morton-Thomashttps

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

  Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien, aber Mottes Mutter muss arbeiten, einen Urlaub könnten sie sich nicht leisten. Sie ist als Personalcoach unterwegs: Mode, Schminke, Sport, Gesundheit, Ernährung. Und genau das interessiert Motte so gar nicht. Am Kai zeigt ihr Lukas das Metallfischen – ein perfektes Hobby für Motte, die neben schwarzer Kleidung das Unperfekte an Dingen liebt. Sie kauft sich einen Magneten zum Metallangeln. Vielleicht kann man sich etwas verdienen, wenn man Altmetall zur Altmetallhändlerin bringt; sie sammelt ihre ersten Schätze, die die Mutter eklig findet. Plötzlich hängt etwas ganz Großes an der Angel! Spannender Kinderroman ab 9/10 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Motte und die Metallfischer von Sanne Rooseboom und Sophie Pluim

Rezension - Lázár von Nelio Biedermann

  «Ein wirklich großer Schriftsteller betritt die Bühne, im Vollbesitz seiner Fähigkeiten.», so wird von ihm geschrieben. Nelio Biedermann schreibt mit 20 Jahren sein erstes Buch und das Manuskript geht in die Versteigerung – die Verlage überbieten sich, es wird in 20 Sprachen verkauft, man redet über ein sechsstelliges Vorschusshonorar – über den neuen Thomas Mann . Uff. Ich war gespannt. Mich konnte der Familienroman nicht überzeugen – leider. Weiter zur Rezension:    Lázár von Nelio Biedermann

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

  © Sibylle Baier, Antje Kunstmann Verlag Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Deutschlands bekannteste Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV, Aktivistin und politisch aktiv für Geflüchtete und von Gewalt Betroffene. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. In ihrem Buch «AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt» nimmt sie uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Mit  «Gegen Frauenhass» zeigt sie die Mechanismen patriarchaler Gewalt und fordert, dass sich endlich etwas ändert. Hier mein Interview mit Christina Clemm. Weiter:   Interview mit Christina Clemm von Sabine Ibing

Rezension - Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht

  Ein mächtiges Kinderbuch! Schwer an Gewicht, eine lange witzige, fantasievolle Geschichte. Der Hase Hollywood und seine Freunde betreiben ein Gasthaus in einer einsamen Bucht am Ende der Welt. Eines Tages taucht ein gefürchteter Piratenkapitän bei ihnen auf und vergisst doch glatt seinen Seesack unter dem Tisch. Darin befindet sich alte Schatzkarte und ein geheimnisvoller rosa Glitzerball. Der Ball entpuppt sich als Ei, aus dem ein kleiner Drachen schlüpft. Und damit beginnt eine abenteuerliche Reise zur Schatzinsel, denn auf der Karte sind auch die Drachen verzeichnet, den das Hasen-Team zu seinen Eltern bringen möchte. Sehr feine Illustrationen, grundsätzlich eine gute Geschichte, aber grobe handwerkliche Fehler für den Kinderroman. Weiter zur Rezension:     Hase Hollywood und das Geheimnis des Drachenlandes von Stefan Rasch, Simon Rasch und Anja Abicht 

Rezension - Was danach kommt von Anika Suck

  Karmen passt einen Moment beim Autofahren nicht auf und verursacht einen Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang – ein Kind ist tot. Es sind nur ein paar Sekunden, die Karmens Leben in seinen Grundfesten erschüttern. Denn im darauffolgenden Prozess muss sie sich einer Schuld stellen. Von der Presse Kindsmörderin getauft und von der Empörungsgesellschaft vorverurteilt, wird sie auch von ihrem sozialen Netz fallen gelassen. Am Ende muss Karmen selbst entscheiden, ob sie schuldig ist oder nicht. Mich konnte das Buch nicht überzeugen, da für mich die Darstellung der Geschichte absoluter Gerichts-Nonsens ist. Weiter zur Rezension:    Was danach kommt von Anika Suck  

Rezension - Flusslinien von Katharina Hagena

  Gesprochen von Ruth Reinecke, Chantal Busse, Julia Nachtmann, Jesse Grimm Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer 11 Std. und 15 Min. Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin , jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe . Die Erinnerungen und Ausflüge in einen Park halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin Luzie, die sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet hat. Sie übernachtet nun allein in einer Hütte für Sportler an der Elbe, will Tätowiererin werden. Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand der Elbe ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld. Zu viel hier und da gefischt, irgendwie zusammengekocht, ein Einheitsbrei, bei dem mir die Tiefe zu einem Thema fehlte. Sprachlich gut, das haut es raus – aber alles zu weit ausgewalzt. Weiter zur Rezension:    Flusslinien von Katharina Hag...

Rezension - Dunkle Sühne von Karin Slaughter

  Gesprochen von NinaPetri  Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 19 Stunden und 55 Minuten  Willkommen in North Falls - einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Das glauben zumindest alle. Bis zum großen Feuerwerk am 4. Juli . Als in dieser Nacht zwei Teenager-Mädchen verschwinden, ist die Stadt in Aufruhr. Für Deputy Emmy Clifton wird der Fall zur Bewährungsprobe – beruflich und persönlich, ihr Vater ist der Sheriff der Kleinstadt. Eines der vermissten Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin, und Emmy weiß, dass sie sie nach Hause bringen muss, um eine alte Schuld zu begleichen. Doch je tiefer Emmy in die Ermittlungen eintaucht, desto stärker wird ihr bewusst, dass hinter den vertrauten Gesichtern der Kleinstadt dunkle Abgründe lauern. Ein klasse Auftakt für eine Serie,  Copkrimi , Whodunnit , ein düsterer, stimmungsvoller literarischer Krimi aus den ländlichen Südstaaten, gut aufgebaute Charaktere, toxische Männlichkeit , Spannung, Familiendramen, Wendun...