Direkt zum Hauptbereich

Istanbul, Istanbul von Burhan Sönmez - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing



(Bild: Zusammenschnitt von Derya / Ibing)


Istanbul, Istanbul 

von Burhan  Sönmez


Der erste Satz: ›Eigentlich ist es eine lange Geschichte, aber ich mache es kurz‹, fing ich an.

Geschichten, um die Angst zu überwinden

Vier Männer im Knast von Istanbul - ein Student, Demirtay, ein Doktor, der Barbier Kamo und ein alter Mann namens (Onkel) Küheylan Dayr. Sie sitzen tief im Keller, hin und wieder gibt es schauderhafte Nahrung. Langeweile tritt ein, Angst vor den Verhören drückt ihnen die Luft zum Atmen weg. So beschließen sie, sich Geschichten zu erzählen. Vorsichtig tasten sie sich aneinander heran. Wer sitzt hier zusammen, politisch Inhaftierte, Gauner, Spitzel? Politische Verfolgung, Willkür, Folter, die Türkei kennt das seit Jahrhunderten. Die Zeit wird nicht benannt. Ob nun nach 1980, nach dem Militärputsch, oder heute unter Erdogan, das Spiel der Kerkermeister ist immer gleich. Absätze klappern auf den Treppen, schwere Schritte, man hofft, dass sie bitte eine andere Tür öffnen mögen, jemand anderen zum Verhör zerren. Geschichten erzählen, Erlebnisse aus dem eigenen Leben, alte Mythen, Parabeln, Rätsel, ablenken von diesem schrecklichen Ort.

Der Schmerz hält die Zeit an und löscht das Gefühl für die Zukunft aus. Die Realität verschwindet, das gesamte Universum besteht nur noch aus deinem Körper. Der Augenblick wird zur Ewigkeit, eine andere Zeit würde es nie wieder geben.

Istanbul ist der zentrale Punkt vieler Geschichten und Istanbul ist irgendwo da oben in der Oberwelt. Die Zeit löst sich auf und verliert ihre Wichtigkeit, hier unten ist ein Ort, dort oben ein anderer, was dort geschieht, ist hier untern zunächst unwichtig. Wer sind diese Männer und was haben sie angestellt? Es gibt einen Pakt untereinander: Nichts erzählen, was ein anderer von uns unter der Folter ausplaudern könnte … Wir erfahren auch nicht genau, was in den Verhören passiert, wenn einer abgeholt wird. Hat die Oberwelt die Gefangenen längst vergessen?

Istanbul glich den Wassern des Bosporus, die Oberströmung fließt von Norden nach Süden, die Unterströmung aber in umgekehrte Richtung. Lebensläufe, die gleichzeitig aber unterschiedlich, parallel zueinander aber in unterschiedlichen Epochen verlaufen, beweisen, dass der Raum die Zeit beherrschen und die Zeit sich wie ein Strudel an unterschiedlichen Punkten konzentrieren kann.

Burhan Sönmez weiß was Gefängnis und Folter bedeutet


Burhan Sönmez schreibt poetisch mit viel Empathie im typisch arabischen Erzählstil, Melancholie und Humor reichen sich die Hand. Die arabische Kultur bedient sich gern ihrer Mythen. Und trotzdem ist der Roman mit den Geschichten in den Geschichten politisch. Die Verhöre sind gegenwärtig, die Macht der Diktatur, lässt den Leser frösteln, sobald die Stiefel hallen und der Leser ist froh, sich hier nicht ins Detail lesen zu müssen. Ein wundervolles Buch voll poetischer Kraft, man spürt die Liebe zu Istanbul, zu Land und Leuten.

Burhan Sönmez stammt aus Anatolien und wuchs zweisprachig, kudisch-türkisch, auf. Der Jurist war Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und Gründungsmitglied der demokratischen Stiftung TAKSAV. Bei einem brutalen Übergriff der Polizei wurde er 1996 schwer verletzt und deshalb in England behandelt, lebte 10 Jahre in Cambridge. Er unterrichtet an der Middle East Technical University in Ankara, schreibt für verschiedene unabhängige Medien und ist aktives Mitglied des türkischen und englischen PEN. Burhan Sönmez lebt heute mit seiner Familie abwechselnd in Istanbul und Cambridge. Seine preisgekrönten Romane erscheinen inzwischen in über zwanzig Ländern. Für Istanbul, Istanbul erhielt er in 2018 den EBRD Literature Prize, zusammen mit dem Übersetzer Ümit Hussein


Der Autor berichtet über seine eigene Haft in den Achtzigern:   Der Ort, an den man mich brachte, lag drei Etagen unter der Erde, eine Zelle von 1 x 2 Metern, genannt ›das Dunkel‹. Es gab eine Eisentür. An manchen Tagen war man allein, an anderen waren zehn und mehr Menschen darin. Niemand konnte sich hinlegen, jeder saß oder stand – tagelang.

Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues?

Kreativ - Kunst - Zeichnen - Lesen - Künstler - Was gibt es Neues? Große Kunst wird gekauft und verkauft, sie kommt unter den Hammer und wird vorn und hinten versichert. Kleine Kunst ist kein Produkt. Sie ist eine Haltung. Eine Lebensform. Große Kunst wird von ausgebildeten Künstlern und Experten geschaffen. Kleine Kunst wird von Buchhaltern geschaffen, von Landwirten, Vollzeitmüttern am Cafétisch, auf dem Parkplatz in der Waschküche.  (Danny Gregory) Das Farbenbuch von Stefan Muntwyler, Juraj Lipscher und Hanspeter Schneider Als ich dieses Kraftpaket von Buch in den Händen hielt, war ich zunächst einmal platt. Wer dieses Sachbuch hat, benötigt keine Hanteln mehr! Aber Spaß beiseite, wer dieses Buch gelesen hat, hat auch keine Fragen mehr zum Thema Farben. Farben werden aus Pigmenten hergestellt, soweit bekannt. Die beiden Herausgeber sind der Kunstmaler Stefan Muntwyler und der Chemiker Juraj Lipscher, beide lebenslange Farbspezialisten, und dies ist ein Kompendium der P

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v