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Interview mit Michael Müller

 




Interview mit Michael Müller

von Sabine Ibing


1979 gründete Michael Müller aus dem «Stegreif» einen Verlag für Reiseliteratur, der binnen 40 Jahren die zweitumsatzstärkste Marke auf dem deutschen Reiseführermarkt wurde, mit mittlerweile über 240 City-, Wander-, Regional- und Ländertiteln. Der erste Reiseführer wurde 1836 von dem Engländer Murray gedruckt. Die Tourismus-Industrie war eine Errungenschaft der Eisenbahn-Ära, später folgten Autoreisen und dann der Einsatz von Flugzeugen. Derzeit ist die Reisebranche im Umbruch.


Bereits seit 2010 beschreitet der Michael Müller Verlag neue Wege in der digitalen Reiseszene. Als Marktführer unter den Individualreiseführer-Verlagen hat der Verlag die Covid-19-Krise als Chance genutzt, die Digitalisierung seiner Angebote zu stärken. Während der Reiseflaute arbeiteten Programmierer, Texter und Marketing-Experten an einem Ziel: Die besten digitalen Reiseführer für das neue Reisen nach der Pandemie zu schaffen – als App für iOS und Android. 

Website:  Michael Müller Verlag



S.R.:   Die Nachfrage nach Ferienwohnungen, Ferienhäusern, Campingplätzen, Wohnmobilen, ist in diesem Sommer überproportional gewachsen. Das dürfte zum einen mit Hygieneregeln und zum anderen mit einem Sicherheitsbedürfnis der Reisenden zu tun haben. Wird der Hype sich halten, oder fällt der Mensch als Gewohnheitstier zurück in alte Verhaltensmuster?


M.M.:  Das wird sich nach meiner Vermutung wieder etwas abschwächen, sich aber auf einem etwas höheren Niveau wie vor der Krise ansiedeln. Europa, speziell Deutschland ist zu eng, um ein Campererlebnis á la Kanada möglich zu machen. Es ist ein Unterschied in einem kanadischen Campground zu stehen und von den Nachbarn fast nichts zu Gesicht zu bekommen und auf einem europäischen Platz dicht in eine Lücke einzuparken.


S.R.:   Die neue Reisekultur nach Corona wird sich auf jeden Fall auf den Massentourismus auswirken. Wird diese Art zu reisen in Teilen sogar vernichtet werden? Oder wird nach einer kurzen Phase der Hunger nach Spaß und Erlebnis die Branche wieder befeuern?



M.M.:  Ich denke, dass immer mehr Leute sich dabei sicher fühlen eine eigene Reise zusammenzustellen und dann eben auch individueller unterwegs sind. Die großen Reiseveranstalter auf der anderen Seite versprechen sich wegen der Krise ein verstärktes Sicherheitsbedürfnis, das nur ein Reiseveranstalter einlösen kann.



S.R.:   Billige Flüge und Share Economy sorgten an manchen Orten für Overtourism. Ein Fluch und ein Segen für diese Städte. Einige Orte überlegen ihre Konzepte diesbezüglich zu überdenken. Amsterdam z.B. möchte die Stadt für Besucher künftig nachhaltiger gestalten, indem sie Besucher durch Umverteilung auf weniger populäre Stadtteile lenkt. Kann das funktionieren?


M.M.:  Da muss mit der dirigistischen Keule nachgeholfen werden. Einfach so geht das nicht. Der Red Light District in Amsterdam, anscheinend einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, soll ja aus diesem Grund umziehen.

Unsere Reiseführer bieten nicht nur die zentralen Hot Spots, sondern verleiten Reisende gerne auch zum Besuch weniger bekannter Stadtteile und Regionen.



S.R.:   Nachhaltiger Tourismus war ein Thema, das vor der Krise langsam zu greifen begann – zu langsam. Nun hat Covid-19 tatsächlich zu einem radikalen Umdenken bei vielen Menschen geführt. Die Coronakrise hat die gesamte Reisebranche in die Knie gezwungen. Hat der Reset eine Beschleunigung auf eine neue Sichtweise mit einem Schlag bewirkt? Werden die Unternehmen die Möglichkeit nutzen, sich bei ihrer Neuaufstellung radikal zu ändern? Vor der Pandemie gab es einen Überfluss an Angeboten. Oft entschieden sich Menschen spontan, wann und wohin sie reisen. Kurztrips per Flugzeug waren angesagt. Wird die kollektive Erfahrung der Coronakrise sich auf das Reiseverhalten auswirken in puncto genaue Auswahl des Urlaubsorts und ökologischer Gesichtspunkte, also wird es mehr erdgebundene Reisen im Nahbereich geben? 


M.M.:  Frühere, regionale Einbrüche von Touristenströmen, meist verursacht durch Bürgerkrieg oder Naturkatastrophen, hatten meist nur zu vorübergehenden Änderungen geführt. Der ökologische Aspekt im aktuellen Ausmaß ist relativ neu und kann zu Verhaltensänderungen führen. Zu einer ökologisch korrekten Reiseentscheidung kann letztlich nur das eigene Gewissen oder der Preis beitragen. Das Verantwortungsbewusstsein wurde in der Krise bestimmt gestärkt und die höheren Flugpreise, die angekündigt wurden, werden auch einen Beitrag leisten.




S.R.:   Einige Branchenkenner bezeichnen das Coronavirus als eine Art Generalprobe für die Klimakatastrophe. Wenn massenhafte Flugreisen ein Ende haben, bedeutet das im Umkehrschluss weniger Besucher für einige Regionen? Wen wird es wahrscheinlich hart treffen?


M.M.:  Vermutlich werden für eine ganze Weile die Fernreisen zurückgehen. Gerade bei der ganz jungen Generation, die zum Teil gleich nach dem Abi nach Neuseeland od. Australien zu einer Work & Travel Tour aufgebrochen sind, werden die mahnende Worte von Fridays For Future in den Ohren klingen.


S.R.:   Die Regionalität wird ein wichtiges Thema zur Nachhaltigkeit bilden. Neben Social Distancing und Naturerlebnissen spielt das Thema Sicherheit eine große Rolle. Die Menschen wünschen kleinere Einheiten und neue Beziehungsstrukturen zwischen Gästen, Einheimischen und Gastgebern. Ist das naiv gedacht, oder ist eine solche Art von kommunikativem Tourismus möglich?


M.M.:  Dazu gibt es immer wieder engagierte Projekte bei denen der Tourist sich ein wenig nützlich macht und als Gegenleistung Bekanntschaft mit seinem Gastgebern macht. In Amsterdam kann man sich z.B. bei einer Grachtenfahrt als Müllfischer erkenntlich zeigen. Aber es wird unmöglich sein für alle Besucher etwas Sinnstiftendes anzubieten, es sind einfach zu viele.


S.R.:   Während also einerseits die Nähe zu den Menschen der bereisten Region, Kontaktfreudigkeit und Sinn-Suche, Regionalität und Nachhaltigkeit bei den Menschen wächst, soll andererseits Technologie Sicherheit durch Abstand ermöglichen. Wie kommt die Technologie ins Spiel? Ticketservice per Smartphone gibt es bereits länger. Manche Städte planen per Verfolgungstracker ihre Besucher zu lenken. Künstliche Intelligenz und Robotics z.B. in der Gastronomie und bei der Prozessorientierung des Dienstleistungsprozesses, um direkte Kontakte zu minimieren. Was hat sich der Michael Müller Verlag ausgedacht, um Touristen digital zu unterstützen?



M.M.:  Die Besucherlenkung wird immer mehr Teil unseres Reisealltags. Mal schnell einen Besuch in den Uffizien für heute einplanen, weil das Wetter zu heiß oder zu feucht ist, geht nicht mehr, man muss schon Tage vorher ein Ticket reservieren. Auch beim Stranderlebnis muss man heutzutage flexibel sein, wenn die Parkplätze wegen Überfüllung geschlossen sind. Unsere digitalen Reiseführer werden bald soweit sein aktuelle Öffnungszeiten von Museen und anderen Locationen abzurufen. Robotics in der Gastronomie? Das wird denke ich nicht so schnell passieren. Von den Self-Service Restaurants in Italien haben nur ganz wenige bis heute durchgehalten, obwohl diese preislich unschlagbar waren.



S.R.:   Nicht jeder kann sich eine Flatline leisten, insbesondere außerhalb der EU. Kann man die Reiseführerapp auch nutzen, wenn man nicht im Internet ist?




M.M.:   Klar, unsere Apps sind offline voll funktionsfähig: Text und Kartenmaterial wird beim Installieren lokal gespeichert und das Satellitensignal kommt aus dem Himmel. Anders würde es der Nutzer nicht akzeptieren. Roaming ist zwar in Europa kein Thema mehr, aber bei Wanderungen in den Bergen immer eine Mobilfunkverbindung zu halten ist unmöglich.


S.R.:   Kann ein Reiseführer Nachhaltigkeit unterstützen – wenn ja, wie?


M.M.:  Wenn ein Reiseführer ein Reiseverführer ist ganz sicher nicht. Wenn man in kleinen Kategorien denkt hat eine App wahrscheinlich einen kleineren ökologischen Fußabdruck als ein Buch mit den Aufwendungen für Papier, Druck, Auslieferung etc. Aber nur wenn man davon ausgeht, dass man sowieso ein Smartphone in der Tasche hat, das die ganze Zeit Strom verbraucht.


S.R.:   Was halten Sie persönlich von den Trackingapps, die geplant sind, um Touristen zu lenken, bzw. sie vor Gefahren zu wahren. Geht eine solche Verfolgung zu tief in die Privatsphäre?


M.M.:   Ich denke das bei solchen Apps, ich habe noch keine kennengelernt, die Anonymität gewährleistet ist und mich so eine App durch Information davon Abhalten will, einen überfüllten oder bereits für neue Besucher gesperrten Bereich zu besuchen.


S.R.:   Wie richtet sich die Reiseführerbranche auf einen Umbruch im Tourismus ein? Der Michael Müller Verlag stand immer für bestes Informationsmaterial für Individualisten. Ist das jetzt mehr als je zuvor gefragt? Wie richtet sich der Verlag auf neue Trends ein?


M.M.:  Der Trend zu immer häufigeren, aber immer kürzeren Reisen trug unsere Titelplanung zu immer kleineren Zielgebieten Rechnung. Dieser Trend begann schon vor 20 Jahren und sorgte dafür, dass Titel wie Spanien/Gesamt oder auch Griechenland in einem Band nur noch im Antiquariat zu finden sind. Aktuell arbeiten wir intensiv daran, unsere Reiseführer gut in einer App abzubilden. Mit Städtezielen ging es vor etlichen Jahren los, jetzt gibt es auch Wanderführer und die ersten Regionalführer. Es ist ein sehr teures Projekt, das in der Vergangenheit immer wieder aus dem Ruder gelaufen ist. Nächstes Jahr wird es auch die ersten Buch & App-Ausgaben für ganze Regionen geben und englischsprachige Ausgaben sind auch bereits geplant.


S.R.:   Ich danke Ihnen für das Interview.


Reiseführer Lissabon MM-City von Johannes Beck

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Weiter zur Rezension:  Reiseführer Lissabon MM-City von Johannes Beck


Vis-à-Vis Reiseführer Nordspanien  (Reiseführer)

Teneriffa von Irene Börjes (Reiseführer)

Südengland von Ralf Nestmeyer (Reiseführer)





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