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Neujahr von Juli Zeh - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing





Neujahr 

von Juli Zeh



Sprecher: Florian LukasUngekürztes Hörbuch, Spieldauer: 5 Std. und 3 Min.


Der erste Satz: Ihm tun die Beine weh.

»Es« sitzt stets im Nacken. Henning, ein Mann, den man sicher als zufrieden und erfolgreich bezeichnen kann: der Verlagslektor ist glücklich verheiratet mit einer erfolgreichen Steuerberaterin, Theresa, sie haben zwei kleine Kinder, die nervige Bibbi und Jonas, deren »großen« Bruder. Erfolg im Beruf, den Henning liebt, bei dem er viel aus dem Homeoffice arbeitet und somit für die Kinder da sein kann, sorgen für eine perfekte Abrundung des Familienlebens.

Mit Kindern ist Urlaub eine Episode, in der das Leben noch anstrengender ist als sonst. Man findet keine ruhige Minute, errichtet mit aller Kraft ein Bollwerk gegen Chaos, Langeweile und schlechte Laune.

Strampeln gegen den Frust

Er strampelt auf seinem Fahrrad den Berg hinauf, »Es« im Gepäck. Die Muskeln krampfen, die Lunge brennt, der Körper verlangt nach Flüssigkeit. Henning hat sich vorgenommen, bis oben hinaufzuradeln, schlappmachen gilt nicht. Treten und denken, überdenken: »Scheiß-Leben, Scheiß-ES, Scheiß-Welt … Scheiß-Teresa, Scheiß-Teresa, Scheiß-Teresa … Scheiß-Jonas, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie«. Was ist geschehen mit ihm, seiner Beziehung, seiner Familie? Ist dies filigrane Konstrukt noch zu retten oder bricht alles auseinander?
Ihr habt einen Vater, und der hat Hände und Füße, warum fragt ihr nicht den?


Giftspritzen von allen Seiten

Henning ist modern, seine Frau ist wesentlich erfolgreicher als er, drum bastelt Henning nicht an seiner Karriere, arbeitet viel von zu Hause und übernimmt den Großteil der Hausarbeit. Theresa erwartet das. Henning ist immer für die Kinder da. Doch es nagt in ihm, sind die Kinder krank, schlecht drauf, wollen sie mit Mama kuscheln. Mama ist die Größte, doch er ist immer für sie da. Was macht er falsch? Beruf, Hausarbeit, Kinder, Henning ist immer im Stress, die Zeit frisst ihn auf. Seit einiger Zeit sitzt »Es« ihm im Nacken. Denn Henning ist sich selbst nie genug. Er will perfekt sein, es allen Recht machen, Selbstzweifel nagen ständig an ihm. Seine Schwester Luna ist das Gegenteil von ihm, bekommt nichts auf die Reihe, ist schluderig, schnorrt sich durch das Leben, wohnt mal bei dem und mal bei diesem. Hat sie gerade niemanden, bei dem sie unterkommen kann, nistet sie sich bei Henning und Theresa ein, wie auch gerade jetzt. Theresa verlangt, er solle sie hinausschmeißen – aber Luna ist doch seine Schwester! »Es« sitzt ihm im Nacken, Panikattacken begleiten seinen Weg. Besonders schlimm sind die schlaflosen Nächte, wenn »Es« heranschleicht, zum Sprung ansetzt wie ein Raubtier. Henning radelt hinauf zum Gipfel des Atalaya-Vulkans, resümiert sein Leben. Er ist am Ende. Urlaub, ausspannen, es sollte eine schöne Zeit werden über die Festtage, doch »Es« ist mitgereist, die Panikattacken verschwinden nicht. Eine Katastrophe bahnt sich an. Wut breitet sich aus, Hass auf sein ganzes Leben, auf sein Familienmodell.

Mit letzter Anstrengung erreicht er das kleine Plateau. Vor seinen Augen tanzen schwarze Punkte. Er lässt das Rad fallen und lehnt sich gegen die Mauer, bis der Schwindel nachlässt.

Der Berg der Erkenntnis

Lanzarote – der Vulkan – dieser Ort zieht Hennig magisch an. Die Ortschaft Fermés ist das Ziel, am Rande des Gipfels, er tritt in die Pedalen, vulkanische Mondlandschaft um ihn herum, Dehydrierung und Mineralienmangel, Henning klappt fast zusammen. In seiner Wut ist er ohne Wasser, Proviant und Geld aufgebrochen. In der Mitte des Romans gibt es einen Bruch, die Geschichte geht weit zurück in Hennings Kindheit, er ist vier Jahre alt und wohnt hier auf Lanzarote in eine Finca, ganz oben auf dem Berg, die Erinnerung trifft ihn wie einen Schlag. Ein Kindheitstrauma tut sich auf …

Wahrheit ist er schon zu sehr daran gewöhnt, seine Zeit mit den Kindern zu verbringen. So sehr ihn die Kleinen oft anstrengen und nerven - allein weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Zu viele Dinge hat er schon zu lange nicht mehr getan. Radfahren, Lesen, Musik hören, Freunde treffen. Aber im kommenden Jahr soll das anders werden.

Ein steiniger Weg liegt vor ihm

Was mir an Juli Zehs Büchern gefällt, ist die Alltäglichkeit und ihre wandelbare Art zu schreiben. Jedes Buch ist völlig anders, jeder Roman hat einen anderen Stil. Was die Bücher verbindet, sind die Figuren, Menschen, wie du und ich, Alltagssituationen. In diesem Stoff geht es um ein nicht aufgearbeitetes Kindheitserlebnis, Schuldgefühle, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen: Schuldig sein, sich kümmern müssen, Verantwortung übernehmen, die Angst vor dem Scheitern, das Gefühl verlassen zu werden. Das schwarze Loch in Hennings Kopf bekommt in der zweiten Hälfte Konturen, es ist real. Henning weiß am Ende, was ein Leben lang in ihm brodelte. Er wird sich stellen. Ob »Es« verschwinden wird, bleibt offen. Zumindest kennt Henning die Ursachen, ein Schritt nach vorn. Ein weiteres gesellschaftliches Thema nimmt Juli Zeh in diesem Zusammenhang auf: Kinder – Job – Haushalt – ist das parallel zu schaffen, und jedem dabei gerecht zu werden, insbesondere sich selbst. In der personalen Er-Perspektive schildert sie distanziert von Hennings Innenleben, das mich als Leserin trotz allem tief berührte. Eine ganz banale Geschichte – sehr spannend beschrieben.

Mein Interview mit Juli Zeh: 

Juli Zeh (Schriftstellerin)

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