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Heimweh nach einer anderen Welt von Ottessa Moshfegh - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Heimweh nach einer anderen Welt 


von Ottessa Moshfegh

Storys


Vorn neben der Tafel stellte ich zwei Schultische als Lehrertisch zusammen. Hinten im Raum versteckte ich in einem Karton unter alten Zeitungen einen Daunenschlafsack. Wenn ich keinen Unterricht hatte, holte ich den Schlafsack heraus, verriegelte die Tür und schlief, bis die Glocke läutete. Meist war ich noch vom Vorabend betrunken.

Wer gern von der heilen Welt liest, ist mit diesem Buch nicht gut beraten. Es sind Momentaufnahmen von einsamen Menschen, schrägen Typen, oder Situationen, die ab einem Punkt das Leben verändern. Schwärze liegt über allem, ein groteskes Panorama menschlicher Bos- und Dummheit. Eher Charakterstudien, als abgeschlossene Geschichten handeln von Wünschen und Sehnsüchten, von Abgründen, manche von der anschließenden Bauchlandung. Die Lehrerin einer katholischen Schule, eine Alkoholikerin, die kokst, findet, dass die Matheaufgaben selbst für sie teils zu schwer sind; eine die ihren Schülerinnen erklärt, dass entgegen einiger Behauptungen Ejakulat nicht dick macht. Sie füllt die staatlichen Mathetests ihrer Schüler aus, damit sie selbst ihren Job nicht verliert, wenn alle durchfallen. Auch sie hat ihr Trauma zu tragen.

Hier wird gar nichts geschönt


Geben Sie mir einfach die Dümmste, die Sie haben.

Der alte Mr. Wu verliebt sich in die junge Angestellte der Videospielhalle. Immer wieder geht er dort hin – ihretwegen. Irgendwann kommt er an ihre Telefonnummer, schickt ihr Liebesnachrichten. Er simst ihr etwas über seine Pickel und Hautausschläge, sie findet das ok, mag keine schönen Männer, weil sie sich dann selbst wie Dreck vorkommt. Die beiden verabreden sich – sie weiß nicht, wer er ist. Als er sie nun in der Spielhalle beobachtet, wie sie sich vorbereitet, nuttig schminkt, ist er angewidert. Er sucht einen Puff auf, will die Dümmste haben, misshandelt die Prostituierte. Und doch treibt es ihn zu dem Treffen – wo er eine Abfuhr erhält. Genauso wie Jeb, der Rentner, der von seiner neuen jungen Nachbarin fasziniert ist, sich an sie heranmacht. Er sitzt dauernd im Keller, weil man von dort über die Rohre die Geräusche aus dem Nebenhaus wahrnimmt. Eine Frau, die den Garten umgräbt, hämmert, bohrt, renoviert – die ihm deutlich klarmacht, dass sie nicht nach einem alten Tattergreis mit Mundgeruch sucht. Hier wird gar nichts geschönt, Körpergerüche, Geräusche, Gerüche, Falten, Flecken, Gebrechen gegen junge Schönheit. Man kann nicht alles kaufen.

Charakterbeschreibungen, tiefgehend bis in die letzte Unappetitlichkeit


Meine Gedanken wandern plötzlich zu dem Friedhof, der schweren, schwarzen Erde, die dort ausgehoben wurde, um Platz für unseren Vater zu machen. Ob mein Körper wohl hier zurückbleibt, wenn ich durch das Loch an den anderen Ort gehe?

Essstörungen, Drogen, Sex, Schmutz, Fantasien, schmutzige Fantasien, Erniedrigung, Selbsterniedrigung, menschliche Abgründe, Suizidgedanken, Gewaltfantasien, in diesen Geschichten vereint sich alles. Da gibt es eine junge Frau, die mit einem Mann zusammenlebt, den sie kaum erträgt, der aber eine Hausmeisterwohnung in einem Stadtteil hat, in den sie verliebt ist. Man kann eben nicht alles haben. Ein anderes Mädchen fühlt sich unnütz und meint, auf dieser Welt habe sie nichts verloren – sie sucht das Loch diese Welt zu verlassen. Ottessa Moshfegh fazinert, verstört, bringt den ein oder anderen Leser bestimmt auch an seine Grenzen. Es sind nicht einfach Storys, dies sind beinharte Charakterbeschreibungen, tiefgehend bis in die letzte Unappetitlichkeit.


Ottessa Moshfegh wurde in Boston geboren und ist kroatisch-persischer Abstammung. Sie steht auf der Granta-Liste der zwanzig besten jungen Autoren aus den USA. Für ihre Novelle »McGlue« erhielt sie den Believer Book Award sowie den Fence Modern Prize. Ihr Roman »Eileen« stand auf der Shortlist des Man Booker Prize und wurde mit dem PEN/Hemingway Award ausgezeichnet. Ottessa Moshfegh lebt in Los Angeles.


Ottessa Moshfegh 
Heimweh nach einer anderen Welt
Storys
Originaltitel: Homesick for Another World, 2017
Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger
Kurzgeschichten, Erzählungen
336 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
Liebeskind Verlag, 2020

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