Direkt zum Hauptbereich

Finger ab von Hannelore Cayre - Rezension

Rezension 

von Sabine Ibing





Finger ab von Hannelore Cayre


In Savignac-de-Miremont wurde soeben ein neuer Meilenstein in der Geschichte der Menschheit gesetzt – genauer gesagt: in der Geschichte der Frau, der großen Vergessenen in der Erzählung über unsere Ursprünge.

In der Gegenwart wird beim illegalen Bau eines Pools in der Dordogne ein Skelett gefunden, und es ist klar, diese Knochen müssen uralt sein. Der polnische Vorarbeiter holt einen Priester herbei, damit der klärt, was zu tun sei, der sich wiederum an die befreundete Paläontologin Adrienne Célarier wendet, sehr zum Ärger der Grundstücksbesitzerin. Denn es kommt, was kommen muss, Adrienne gräbt im Garten und findet zudem eine Höhle mit einem weiteren Skelett: 35.000 Jahre alt, die Höhle mit Wandmalereien geschmückt und mit gesetzten Handabdrücken von Frauenhänden, «denen allen ein oder mehrere Fingerglieder fehlen». Sie geht davon aus, dass die Frauen für Fehlverhalten mit dem Abhacken von Fingern bestraft wurden. Und dann springen wir in der Zeit zurück ins Paläolithikum zu Oli, die nicht verstehen will, warum Frauen nicht jagen dürfen. 


Dummes Zeug, was von den Männern behauptet wird


Jetzt kapier ich, warum ihr uns das Jagen verbietet. Uns sogar daran hindert, es zu lernen. So könnt ihr euch wichtigmachen, indem ihr uns erklärt, wie wertlos wir sind, und euch gleichzeitig als unsere Retter aufspielt. Ihr könnt uns vorlügen, dass ihr uns zu unserem eigenen Besten bestraft. Aber in Wahrheit – in Wahrheit sterbt ihr vor Angst, wir könnten dahinterkommen, wie vollkommen nutzlos ihr seid!

Oli entdeckt eine Gruppe weißhäutiger Neandertaler, die eine völlig andere Körperstruktur haben, eine vorragende Stirn, die sie vorm Regen schützt, sie sind behaart und viel klobiger und gedrungen als die Ihrigen. Und dort sieht sie Frauen, die jagen gehen! «Und trotzdem war die Welt davon nicht ins Chaos gestürzt, wie man es ihr immer eingebläut hatte.» Die Männer in ihrem Stamm hatten die Frauen belogen. Dummes Zeug, wie vieles andere mehr, was behauptet wird, stellt Oli fest. Und nun ist sie nicht mehr bereit, sich den Gesetzen zu beugen. Der Roman wechselt in den Zeiten – zwischen einer Pressekonferenz, in der Adrienne erklärt, was sie gefunden hat und was sie hier vermutet – und Oli, die nebenbei herausfindet, dass Schwangerschaften durch die Männer entstehen, und sie ist es, die den verlängerten Arm für die Jagd, den Wurfspieß, erfindet. 

Satirisch, paläontologisch interessant

Das Buch wird unter Krimis eingeordnet, was für mich so gar nicht passt, denn hier ermittelt niemand nach einem Mord. Gut, es gibt diverse Tote, Frauen die bei der Geburt ihrer Kinder sterben, ein Mann wird zur Vorspeise von Löwen, die das gleiche Mammut jagten, wie er – Oli erschlägt den Anführer Ältester Onkel, weil sie sich nicht weiter Vorschriften machen lassen will, und begibt sich auf die Reise, um die Welt zu erkunden. Ein historischer Roman mit viel Humor geschrieben – und doch konnte das Buch mich nicht ganz abholen. Hannelore Cayre greift tief in die Klischeekiste – aber ich denke, das ist mit Absicht satirisch gemeint. Männer haben hier eigentlich immer nur ihre Fortpflanzung im Kopf, selbst beim Jagen stellen sie sich selten dämlich an – auch das können die Frauen besser. Ich kam mit der Sprache im Kontext nicht ganz klar. Hier unterhalten sich Menschen auf heutigem Niveau, besonders komisch wirkt das, wenn es um Feminismus geht oder das Stillen. Ich habe immer drauf gewartet, dass einer sagt: Lasst uns das googeln. Es hat Spaß gemacht, den Roman zu lesen, eben weil er witzig und kurzweilig ist. Die paläontologischen Erklärungen waren interessant. Am Ende gibt es dazu ein Literaturverzeichnis, und Cayre stützt ihre Theorie unter anderem auf die Veröffentlichungen von 2014 der italienischen Anthropologin Paola Tabet, «Le dita tagliate» (Die abgeschnittenen Finger). Auch wenn jemand ermordet wird, ist eine Story noch lange kein Kriminalroman. Ich reihe das Buch als historischen Roman ein, der einen herrlichen satirischen Unterton führt. Denn die Autorin greift auf fundiert auf die heutigen Erkenntnisse zu Homo Sapiens und Neandertaler in der Steinzeit zurück


Hannelore Cayre ist Strafverteidigerin in Paris, schreibt Romane und betätigt sich als Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Früher war sie Finanzchefin einer Filmproduktionsfirma. Irgendwann langweilte sie das Finanzwesen, die Juristerei hingegen faszinierte sie. Cayre spezialisierte sich auf Strafrecht und wurde Pflichtverteidigerin. Für »Die Alte« erhielt sie den Prix du polar européen und den Grand Prix de littérature policière. Sie selbst schrieb das Drehbuch für den Kinofilm »Eine Frau mit berauschenden Talenten«.



Hannelore Cayre
Finger ab 
Originaltitel: Les doigts coupés 
Aus dem Französischen übersetzt von Iris Konopik
Zeitgenössische Literatur, Paläontologie, Prähistorie, Homo Sapiens, Steinzeit, Neandertaler, historischer Roman
Taschenbuch, 204 Seiten
Argument Verlag, 2024





Reichtum verpflichtet von Hannelore Cayre

Das Buch beginnt mit einer Beerdigung und der Leser erfährt, dass Blanche de Rigny ein großes Vermögen geerbt hat. Sie will Gutes tun, das Kapital dafür einsetzen, die Ausbeutung durch Konzerne in der Welt zu bekämpfen, Vernichtung von Ressourcen, Umweltverschmutzung und Sklavenarbeit anprangern. Eine Story auf zwei Erzählsträngen. Die zweite Ebene ist die Geschichte von Blanches Vorfahren Auguste de Rigny. Ein verwöhnter, reicher Student, der familiär aus der Art schlägt, 1870 den Gedanken von Karl Marx und der der Pariser Kommune folgt. Im 19. Jahrhundert entstanden riesige Familienvermögen durch Ausbeutung, Imperien, die noch bestehen, heute global weiter an Ausbeutung beteiligt sind und wesentlich mehr Macht haben, als gut für den Planeten ist. Die Autorin verbindet die Zusammenhänge mit Raffinesse. Empfehlung!

Weiter zur Rezension:  Reichtum verpflichtet von Hannelore Cayre



Krimis und Thriller

Ich liebe Krimis und Thriller. Natürlich. Spannend, realistisch, gesellschaftskritisch oder literarisch, einfach gut … so stelle ich mir einen Krimi vor. Was ihr nicht oder nur geringfügig bei mir findet: einfach gestrickte Krimis und blutrünstige Augenpuler.
Krinis und Thriller

Historische Romane und Sachbücher

Im Prinzip bin ich an aller historischer Literatur interessiert. Manche Leute behaupten ja, historisch seien Bücher erst ab Mittelalter.  Historisch - das Wort besagt es ja: alles ab gestern - aber nur was von historischem Wert ist. Was findet ihr bei mir nicht? Schmonzetten in mittelalterlichen Gewändern. Das mag ganz nett sein, hat für mich jedoch keine historische Relevanz.  Hier gibt es Romane und Sachbücher mit echtem historischen Hintergrund.
Historische Romane




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Drainting: Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger

  Als Drainting bezeichnet Felix Scheinberger die intuitive Kombination von Malen und Zeichnen. Damit hebt er die jahrhundertealte heute vollkommen unnötige Trennung zwischen Flächen malen und Linien zeichnen auf und verbindet das Beste aus beiden Welten. Früher machten wir einen Unterschied zwischen Zeichnen und Malen und damit fingen die Schwierigkeiten an. Wo es nämlich gar keine Umrisslinien gibt, gilt es, diese abstrakt zu (er)finden. Die intuitive Kombination aus Zeichnen (Drawing) und Malen (Painting) garantiert gute Ergebnisse und unendlichen Spaß! Eine gute Einführung erklärt das Knowhow und Grundsätzliches zum Malen und Zeichnen – gute Ideen, die man selbst umsetzen kann. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Die Kunst, malen und zeichnen zu verbinden von Felix Scheinberger 

Rezension - Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

  Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät Ein Aufklärungsbuch, das locker Fragen beantwortet und kurze Erfahrungsberichte von jungen Menschen einstreut, das alles mit knalligen Illustrationen unterlegt. Du bist, wie du bist, und du bist, wie du bist okay. Das Jugendbuch erklärt, stellt Fragen. Die Lust im Kopf, genießen mit allen Sinnen; was verändert sich am Körper in der Pubertät?, die Vagina, die Monatsblutung, der Penis, Solosex, LGBTQIA, verliebt sein, wo beginnt Sex?, Einvernehmlichkeit, wie geht Sex?, Verhütung, Krankheiten, Sextoys – das Buch spart nichts aus. Informieren, anstatt tabuisieren! Locker und sensibel werden alle Themenfelder sachlich vorgestellt. Prima Antwort auf offene Fragen; ab 11 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Sex in echt von Nadine Beck, Rosa Schilling und Sandra Bayer

Rezension - Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

  Gesprochen von Hans Jürgen Stockerl Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 12 Std. und 7 Min. Wir schreiben das Jahr 1683. Der junge Engländer Obediah Chalon, Spekulant, Händler und Filou, hat sich in London gerade mit der Investition von Nelken verspekuliert und eine Menge Leute um ihr Geld gebracht, das mit gefälschten Wechseln. Conrad de Grebber, Direktoriumsmitglied der Vereinigten Ostindischen Compagnie bietet Obediah  die Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen: Er wird auf eine geheime Reise geschickt, um etwas zu stehlen: Kaffeepflanzen. Spannender Abenteuerroman rund um den Kaffee. Empfehlung! Weiter zur Rezension:   Der Kaffeedieb von Tom Hillenbrand

Rezension - Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

  Helene hätte ihren Mann, Georg, verlassen können – damals – für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. ‹Es ist einfach passiert.›, sagt er, zieht bei Mariam ein. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang für die Mittvierzigerin. Vielleicht ist sie gekränkt weil Georg einfach ging – eifersüchtig, eben auch, weil die Kinder diese junge Yogalehrerin mögen. Doch gleichzeitig ist sie jetzt frei – vielleicht für Alex, denn die beiden haben sich seit ihrer Studienzeit in Paris nie aus den Augen verloren. Eine verdammt gut geschriebene Familiengeschichte. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:     Lügen, die wir uns erzählen von Anne Freytag

Rezension - So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

  Am Fuße der Elk Mountains in Colorados strömt der Gunnison River an einer alten Pfirsichfarm vorbei. Hier lebt in fünfter Generation in den 1940ern die 17-jährige Victoria mit ihrem Vater, dem Onkel und ihrem Bruder Seth. In der Stadt begegnet sie Wilson Moon, und beide fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Dramatische Ereignisse zwingen Victoria, selbst das Leben in die Hand zu nehmen. Ein wenig schwülstig, doch gut lesbar, atmosphärisch, ein Familienroman, ein Coming-of-age – gute Unterhaltung … eine Hollywood-Geschichte. Die Pilcher-Fraktion wird begeistert sein!  Weiter zur Rezension:    So weit der Fluss uns trägt von Shelley Read

Rezension - Der Gott des Waldes von Liz Moore

Im August 1975 findet wie jedes Jahr ein Sommercamp in den Adirondack Mountains für Kinder und Jugendliche statt. Als Barbara eines Morgens nicht wie sonst in ihrer Koje liegt, beginnt eine großangelegte Suche nach der 13-Jährigen. Barbara ist keine gewöhnliche Teilnehmerin: Sie ist die Tochter der reichen Familie Van Laar, der das Camp und das umliegende Land in den Wäldern gehören. Viele Jahre zuvor verschwand hier der achtjährige Bear, ihr Bruder, der seit 14 Jahren vermisst wird. Hängen die Vermisstenfälle zusammen? Liz Moore zeigt mit ihrem literarischen Krimi ein Gesellschaftsbild, bei dem Frauen nichts zu sagen haben. Spannender Gesellschaftsroman, ein komplexer Kriminalroman. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Der Gott des Waldes von Liz Moore

Rezension - Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis

  (Detektivbüro LasseMaja, Bd. 37)  Es gibt hochfliegende Pläne im Ort Valleby: Ein Astronaut macht mit seiner Raumkapsel in der Kleinstadt Station und will als Nächstes den Planeten Neptun ansteuern. Und laut tönt er, er suche Astronaut:innen, die ihn begleiten. Bewerber will er einem Astronauten-Test unterziehen, danach bestimmt er, wer mitfliegen darf! Natürlich benötigt er auch Spenden für sein Projekt. Die Detektiv:innen Lasse und Maja hören genau zu. Und bei dem, was der Mann so erzählt, kommt schnell der Verdacht, dass an der Geschichte etwas faul ist und der Typ ein Betrüger ist. Das teilen sie dem Dorfpolizisten mit – doch der hat gerade keine Zeit für sie. Ein Dieb geht um … Spannender, witziger Kinderkrimi ab 8 Jahren, Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   Detektivbüro LasseMaja – Das Weltraumgeheimnis von Martin Widmark und Helena Willis 

Rezension - Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt

Bendix, der Häuptling des Keltendorfs Taigh, ist außer sich: Jemand hat seinen Honigtopf gestohlen! Lindis, der Ziehsohn der Dorfdruidin Kundra und dessen Freunde Finn und Veda wollen der Sache auf den Grund gehen. War der Dieb hinter der wertvollen Amphore her oder hinter deren speziellem Inhalt? War es einer der fahrenden Händler? Und dann ist auch noch die kleine Tochter der Sklavin verschwunden! Unter dem Vorwand, fischen gehen zu wollen, machen sich die drei Jugendlichen heimlich auf die Suche nach den Händlern und kommen dabei einem Geheimnis auf die Spur … Weiter zur Rezension:    Lindis und der verschwundene Honigtopf von Viola Eigenbrodt 

Rezension - Osso – Geschichte einer Freundschaft von Michele Serra und Alessandro Sanna

  Ein alter Mann lebt in einem Haus am Waldrand, mit Blick auf die Stadt. Eines Tages kommt ein hungriger Hund zum Haus, der sich nicht herantraut. Der Mann stellt Futter hin und geht zurück ins Haus. Jeden Tag kommt der Hund am Morgen und am Abend, und weil er so knochendürr ist, nennt der Mann ihn Osso, schließt den Streuner ins Herz. Eine wunderschön erzählt und illustrierte Geschichte über die Beziehung Mensch und Hund. Allage, ab 10 Jahren – Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Osso – Geschichte einer Freundschaft von Michele Serra und Alessandro Sanna