Rezension
von Sabine Ibing
Die Frauen der Familie Carbonaro
von Mario Giordano
Wir sind Sizilianer, wir sind so sehr an Wunder gewöhnt, dass wir einen Anspruch daraus ableiten. Wir sind Nachkommen von Göttern, geformt aus Lava und Meerschaum, unsere Lethargie entspringt der Gewissheit, unsterblich zu sein. … Wir leben in einer Realität, die angefüllt ist mit den Wundern und Schrecken des Mythos. Für uns gilt eine andere Physik. Magie ist unsere Normalität, die Banalität des Irdischen langweilt uns.
Die Geschichte der Familie Carbonaro geht in den zweiten Teil, diesmal aus der Sicht der Frauen aus drei Generationen. Pina will herrschen. Anna will singen. Maria will Hosen tragen. Sie erzählen von einem archaischen Sizilien Ende des 19. Jahrhunderts, vom Fluch ihrer Vorfahrinnen, von Wundern, Illusionen und kleinen Triumphen, von Männern, die sie enttäuschen, weil es eben Männer sind – die sie trotzdem lieben. Eine Geschichte über Liebe, Eifersucht und Gewalt, über Mafiastrukturen, und andere mächtige Männer, über das Durchleben von zwei Weltkriegen; ein Leben in Sizilien und Deutschland, vom Handel mit Zitrusfrüchten, das Gefühl von Heimat und Fremdsein, und davon, wie das Glück sie immer wieder fand.
Die Männer waren so roh, wie die Sonne, so versteinert, wie das Land, so knorrig und geduckt wie die Bäume. Sie rauchten, stanken, grunzten und sangen. Wie Zyklopen kamen sie mir vor, mit Schwestern und Töchtern, deren Unschuld ihnen heilig war, und die mich bei einer günstigen Gelegenheit dennoch auf der Stelle vergewaltigt hätten, wenn die Angst vor dem padrone sie nicht abgehalten hätte.
Der erste Teil «Terra di Sicilia», handelte von Barnaba, der sich in den Kopf setzte, einen eigenen Handel mit Mandarinen aufzubauen, später mit allen Zitrusfrüchten. Der Mann, der in München auf dem Großmarkt ein Geschäft aufzog, mehr Zeit in München verbrachte, als bei seiner Familie auf Sizilien - der mehr oder weniger eine zweite Familie parallel in Bayern führte, der in all den Geschäftsjahren niemals Deutsch lernte. Seine Frau Pina führte das Geschäft auf Sizilien, machte die Buchführung und hatte ihre eigenen Pläne im Kopf. Anna heiratete Nino Carbonara, den Schneider, der später zur Unterstützung seines Vaters nach München ging. Maria wuchs in Deutschland auf und hatte auch ihre eigenen Vorstellungen für das Zitrusfruchtgeschäft. Grob gesehen ist dies die echte Familiengeschichte von Mario Giordanos Familie. Vielleicht klingt der Stoff deshalb so authentisch und lebendig. Natürlich sind wieder die Toten dabei, die am Tisch sitzen – irgendwann endlich verschwinden – die nur die Familienmitglieder sehen können, die zwei Schatten werfen, die Frauen, die von den Sirenen abstammen, die von Urzeiten aus dem Meer stiegen.
Niemand führt Buch über unsere Triumphe und Niederlagen. Wir sind Sizilianer, wir glauben nur an das Hier und Jetzt, wir huldigen nur dem Schein. Niemand will lernen, alle wollen herrschen. Ich war nicht anders
Barnaba führt ein eisernes Regiment als Familienoberhaupt – die Schlauen in dieser Familie sind trotzdem die Frauen. Niemand am Tisch würde es wagen, mit dem Essen zu beginnen, solange Barnaba nicht den ersten Löffel genommen hat. Er, der Mandarinenpflücker, der dem Mafiaboss trotzte und mit seiner Tochter Pina durchbrannte. Pina hatte sich Barnaba auserkoren, der eigentlich eine andere heiraten wollte, die allerdings einem reichen Mann das Jawort gab. Der Schneider Nino wird von dem Fischer noch in der gleichen Nacht mit dessen Tochter Anna verheiratet, als er sie erst spät nachts nach Hause bringt. Und Nino flüchtet darauf mit Anna, nun seine Ehefrau, in sein Elternhaus in sein Zimmer, wo sie sich drei Tage lang einsperren vor Scham. Pompöse Hochzeiten hat man hier nicht zu erwarten, die Männer sind von den Schwiegervätern nicht auserwählt worden. Schwierige Zeiten und ein Rauf und Runter im Geschäftsleben wird diese Familie durchlaufen.
Die Familie Siziliens Segen und Fluch. Sie wird dich immer schützen und nähren und erwartet dafür absolute Loyalität. Die Familie steht über allem. … Alles soll ewig so bleiben, wie es ist. Wir hassen das Neue, denn das Neue, das waren immer die Eroberer, die übers Meer kamen. Das Neue war immer Gefahr. Falls du es aber doch zu etwas bringst, werden aus allen Ecken die Schnorrer kommen, die Onkel und Cousins, von denen du noch nie gehört hast. Du wirst deine Brüder durchfüttern, überhaupt die ganze Familie, denn du allein bst nichts, die Familie ist alles.
In einem gewaltigen Bilderbogen lässt Mario Giordano die bewegten Schicksale dreier Frauen erstehen, die unbeirrbar ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben verfolgen. Und er nimmt uns mit auf eine Reise von Sizilien nach Deutschland, die ein ganzes Jahrhundert umspannt. Und er schreibt mit der Leichtigkeit einer Meerbrise, mit dem Duft Siziliens der Zitrusfrüchte, des Meeres und den aus den Töpfen. «Ich wollte meine eigene Bahn mit eigenen Monden um eine eigene Sonne, aber als sizilianische Frau des neunzehnten Jahrhunderts galten für mich andere Naturgesetze», sagt Pina. Ihr Mann steht in München auf dem Großmarkt, sie hält in Sizilien die Familie zusammen, in einem vollen Haus, das auch Mütter, Väter, Großeltern und Schwiegerkinder beherbergt; sie führt die Bücher und hat ein eigenes Projekt im Kopf, für das sie kämpft. Armes Sizilien, patriarchalisch, von der Mafia regiert, die Adligen haben längst nichts mehr zu sagen, aber noch genügend Einfluss. Anna will nicht zurück nach Sizilien, denn sie möchte für ihre Kinder eine gute Bildung haben und ihr gefällt der Fortschritt, der in München einzieht. Auf Sizilien bleibt alles, wie es ist, Frauen gehören den Männern, die Tradition und die Familie stehen im Vordergrund. In Deutschland ziehen die Nazis ein und die Carbonaras werden Zeugen von schrecklichen Dingen. Die Jahre von 1896 bis 1960 werden beleuchtet, erzählt von Toni, dem Bruder von Maria, der zwischen Personen und Zeiten wechselt. Man kann diesen Roman lesen, ohne den ersten Teil zu kennen – ich würde allerdings beide lesen, weil es schlicht Spaß macht. Eine klasse Familiengeschichte mit wundervollen Figuren. Ein Blick in die sizilianische Seele, ein historischer kleiner Einblick über ein Jahrhundert, das alles mit viel Atmosphäre und Humor verpackt, aber auch mit Szenen, die unter die Haut gehen. Meine Empfehlung!
Mario Giordano, geboren 1963 in München, ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane sind in über 15 Sprachen übersetzt worden, mit seinen »Tante Poldi«-Krimis stand er in Deutschland und den USA regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Zudem verfasste er u.a. die Romanvorlage und das Drehbuch zu »Das Experiment« sowie Bilder- und Jugendbücher. Seine beiden Romane über die Familie Carbonaro basieren auf der Geschichte seiner eigenen Familie. Mario Giordano lebt in Berlin.
Mario Giordano
Zeitgenössische Literatur, Familiengeschichte, Italien, Sizilien, München, Zitrusfrüchte
Hardcover mit Schutzumschlag, 512 Seiten
Goldmann Verlag, 2024
Terra di Sicilia – Die Rückkehr des Patriarchen von Mario Giordano
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Zeitgenössische Literatur
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Zeitgenössische Roman
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