Direkt zum Hauptbereich

Der Erinnerungsfälscher von Abbas Khider - Rezension

Rezension

von Sabine Ibing



Der Erinnerungsfälscher 


von Abbas Khider

Gesprochen von: Timo Weisschnur
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 3 Std. und 2 Min.


Sein ganzes Leben bestand aus wahllos sich überlagernden Bildern, kurzen Sätzen, lückenhaften Szenen und Anekdoten. Nichts schien vollständig zu sein, kein einziges Erlebnis in seiner Erinnerung. […] Das Erinnern war eine Last, eine harte innerliche Arbeit. Das, was früher einmal in seinen Kopf gelangt war, fand nicht mehr hinaus, war gefangen wie in einem Labyrinth, und wenn es doch herausfand, blieb es unvollständig.

Abbas Khider ist für mich einer der besten deutschen Schriftsteller. Mit diesem kleinen Roman zeigt er wieder mit ungeheuerer Wucht, kurz und prägnant, die Problematik des Zugereisten darzustellen – insbesondere, wenn er erkennbare arabische Wurzeln hat. Neben der Frage, was Heimat ist, bringt er sicherlich persönliche Erfahrungen in die Geschichte ein, die beim Lesen in die Magenkuhle krachen. Wer arabischstämmige Freunde hat, der kennt das Prozedere: Du bist bei jeder Verkehrsüberprüfung dran, am Bahnhof, am Abend beim Bummel usw.: Immer die grundlose Ausweiskontrolle. Und immer wieder die absurde Frage zum deutschen Pass: Sprechen Sie Deutsch?


Bilden Erinnerungen die Wirklichkeit ab?


Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten.


Said Al-Wahid ist ein deutscher Staatsangehöriger, hat seinen Reisepass überall dabei, selbst wenn er nur kurz in den Supermarkt geht. Das hat seinen besonderen Grund. Er ist einstmals aus dem Irak gekommen, hat in Deutschland studiert, geheiratet, ist Vater geworden, ein gefragter Schriftsteller. Als er die Nachricht erhält, seine Mutter liege im Sterben, reist er zum ersten Mal seit Jahren in das Land seiner Herkunft. Wenn er sich erinnert, so fragt er sich, ob es wirklich so war, oder ein wenig anders oder womöglich die Erinnerung seiner Fantasie entsprungen ist. Viele Lücken tun sich auf. Das Gedächtnis ist trügerisch, emotional, verschleiert und dichtet selbstständig hinzu; Erinnerung kann schmerzlich sein, versteckt sich, bildet die eigene Wahrnehmung ab. Welche Erinnerungen fehlen, welche sind erfunden und welche verfälscht? Said weiß es nicht. Es ist seine Rettung bis heute.


Bruchstücke setzen sich wie Puzzleteile zusammen


Sein ganzes Leben bestand aus wahllos sich überlagernden Bildern, kurzen Sätzen, lückenhaften Szenen und Anekdoten. Nichts schien vollständig zu sein, kein einziges Erlebnis in seiner Erinnerung.


Said will Bücher schreiben, er versucht sich zu erinnern, an seine Zeit im Iran, an die Flucht und seine erste Zeit in Deutschland. Das Schreiben ist blockiert. Dann kommt er zu dem Punkt, dass die Erinnerung nicht wichtig ist, sondern das Schreiben selbst – es muss eine gute Geschichte dabei herauskommen. Nun fließt es aus ihm heraus. Eine Mischung aus Wahrheit und Erfundenem, gespickt mit Gefühlen. Die Geschichte ist nicht linear, Bruchstücke setzen sich wie Puzzleteile zusammen. Das Unausgesprochene hallt nach, gibt dem Roman Kraft und Tiefe. Es ist das Gefühl, nie angekommen zu sein – ein Pass ist nichts, wenn er keine Bedeutung hat. Demütigung am laufenden Band. Behördenwillkür, Rassismus, die Traurigkeit, «sein Land» nicht verständlich machen zu können, weil hier eine andere Sicht der Dinge vorherrscht – ein kompliziertes Konstrukt der Wahrheiten. Wie soll man auch etwas verstehen, zu dem man keinen realen Bezug hat? Said mit der «schattigen Hautfarbe» kehrt zurück in das Land, das heute «bärtig und verschleiert ist», weil seine Mutter im Sterben liegt. Und auch hier halten die Erinnerungen nicht dem stand, was er heute sieht. 


Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein – wenn man diese Orte meidet.


Abbas Khider unterlegt seine Geschichte wie immer mit einer guten Portion von schwarzem Humor. Es ist ein Gesellschaftsroman, der uns den Spiegel vorhält. Ein wichtiger Bestandteil in diesem Buch ist die Novelle «Die Taube» von Patrick Süskind, ein Buch, das Said immer wieder in die Finger bekommt, in den absurdesten Situationen, das er aber nie zu Ende lesen kann, weil er weiterzieht – ein Symbol der eigenen Unfähigkeit mit seinen Traumata umzugehen. Nüchtern geschrieben ohne Anklage und pathetisches Gesäusel. Die Welt ist, wie sie ist, auf der einen, wie auf der anderen Seite. Ein Roman, den man sich nicht entgehen lassen sollte!


Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren. Mit 19 Jahren wurde er wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet. Nach der Entlassung floh er 1996 aus dem Irak und hielt sich in verschiedenen Ländern auf. Seit 2000 lebt er in Deutschland und studierte Literatur und Philosophie in München und Potsdam. 2008 erschien sein Debütroman «Der falsche Inder», es folgten die Romane «Die Orangen des Präsidenten» (2011) und «Brief in die Auberginenrepublik» (2013). Er erhielt verschiedene Auszeichnungen, zuletzt wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, dem Hilde-Domin-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt. Außerdem war er im Jahre 2017 Mainzer Stadtschreiber. Abbas Khider lebt zurzeit in Berlin. Bei Hanser erschienen von ihm Ohrfeige (Roman, 2016), Deutsch für alle (Das endgültige Lehrbuch, 2019), Palast der Miserablen (Roman, 2020) und Der Erinnerungsfälscher (Roman, 2022).



Abbas Khider
Der Erinnerungsfälscher
Gesprochen von: Timo Weisschnur
Ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 3 Std. und 2 Min.
Gesellschaftsroman, Zeitgenössische Literatur, Rassismus, Asyl, Flucht
Audible, Hörbuch Hamburg HHV GmbH, 2022
Carl Hanser Verlag, 2022; 128 Seiten




Zeitgenössische Literatur

Hier verbirgt sich manche Perle der Literatur. Ich lese auch mal einen Bestseller, natürlich, aber mein Blick ruht  immer auf den kleinen Verlagen, auf den freien Verlagen. Sie trauen sich was - und diese Werke sind in der Regel besser als der Mainstream der meistgekauften Bücher …
Zeitgenössische Romane

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Rezension - Zappenduster von Hubertus Becker

Wahres aus der Unterwelt Kurzgeschichten aus der Unterwelt: »Alle Autoren haben mehr als zehn Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht.« 13 Geschichten von 6 verschiedenen Autor*innen. Diverse Schreibstile, vermischte Themen, aber das Zentralthema ist Kriminalität. Knastgeschichten, Strafvollzug, die Erzählungen haben mir unterschiedlich gut gefallen – zwei davon haben mich beeindruckt, die von Sabine Theißen und Ingo Flam. Weiter zur Rezension:  Zappenduster von Hubertus Becker 

Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada

Am 08.11.2019 war ich zu einer Mischung aus Lesung und Definition des Begriffs Kriminalliteratur in St. Gallen in der Wyborada zu Gast, im Literaturhaus & Bibliothek in St. Gallen in der Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada. Else Laudan sprach zum Thema Kriminalliteratur, erzählte ihren Weg mit ihrem freien Verlag Ariadne, ein Verlag, der ausschließlich literarische Kriminalliteratur von Frauen veröffentlicht. Weiter zum Artikel:    Was ist eigentlich Kriminalliteratur? - Ein Abend mit Else Laudan in der Wyborada 

Rezension - Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli

  Eine witzige Geschichte über ein starkes Mädchen, das Verantwortung für ihre Umwelt übernimmt. Eines Tages kommt Juli aus dem Haus und der Baum ist weg. Wo mag er geblieben sein? Doch als Juli nach Hause kommt, liegt er in ihrem Bett: «Kein Bock mehr!» Den Baum hat es erwischt: Burnout. Kein Wunder, dass er so viel arbeiten muss, denn er ist der einzige Baum weit und breit. Aber wo soll die Amsel denn nun ihr Nest bauen? Und wo soll die Fledermaus schlafen? Kein Problem, meint Juli, der Baum brauchte sicher nur mal eine Pause. Und so lange kann sie ja für die Tiere da sein … Humorvolles Bilderbuch mit Tiefgang ab 3 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Kein Bock mehr von Anna Lott und Andrea Ringli 

Rezension - Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

  Aram Mattioli erzählt zum ersten Mal den langanhaltenden Widerstand der First Peoples in den USA - vom First Universal Races Congress (1911) über die Red Power-Ära und die Besetzung von Wounded Knee (1973) bis hin zu den Protesten gegen die Kolumbus-Feierlichkeiten (1992). Die American Indians waren dabei nie nur passive Opfer, sondern stellten sich dem übermächtigen Staat sowohl friedlich als auch militant entgegen.  Schwer verdaulich, wie die Native Americans noch im 20. Jahrhundert entrechtet und diskriminiert wurden. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Zeiten der Auflehnung von Aram Mattioli

Rezension - Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

  Eine fantasievolle poetische Gutenachtgeschichte, eine Bilderbuch-Reise über das, was in der Nacht geschieht. Eine Tochter fragt den Papa: «Was ich dich schon immer mal fragen wollte ..... Was passiert eigentlich, wenn ich schlafe?» Und der Papa beginnt zu erzählen. Es beginnt um neun Uhr. Stunde um Stunde verändert sich die Nacht und zeigt uns ihr wahres, ihr traumgleiches Antlitz: Statuen spielen verstecken, Telefone rufen sich gegenseitig an, der Wal im Schwimmbad traut sich an die Wasseroberfläche, die Laternen trinken aus Pfützen… Ist das möglich, was Papa erzählt? Oder will er uns einen Bären aufbinden? Eine wunderschöne Gutenachtgeschichte ab 4 Jahren, die zu herrlichen Träumen einlädt. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Was macht die Nacht? von Dirk Gieselmann und Stella Dreis

Rezension - Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft, die einige Krisen überwinden muss. Ein illustriertes spannendes Kinderbuch zum Vorlesen, ebenso für Erstleser geeignet. Ein Erdhörnchenkind und ein Wolf freunden sich an, haben manches Abenteuer zu bestehen und ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt. Weiter zur Rezension:    Ein Freund wie kein anderer von Oliver Scherz und Barbara Scholz

Rezension - Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Dieses witzig-gruslige Jugendbuch, bzw., schlicht Comic, nimmt eine über 100 Jahre alten Geschichte von John Kendrick Bangs auf. Die Comic-Zeichnerin Barbara Yelini interpretiert die Story neu mit wundervollen Wasserbildern. Ein wundervoller Comic für Jugendliche, die nicht sehr lesebegeistert sind. Zur Rezension:    Das Wassergespenst von John Kentrick Banges und Barbara Yelin

Rezension - In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

  Kemi, Brittany-Rae und Muna: drei Frauen leben in Schweden – drei völlig unterschiedliche Lebenswelten; eins haben sie gemeinsam: Sie sind schwarz und nicht in Schweden geboren. Ihre Ausgangssituationen können kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem beginnen sich ihre Leben auf unerwartete Weise zu überschneiden – in Stockholm, einer als liberal geltenden Stadt. «In allen Spiegeln ist sie Schwarz» erzählt die schwierigen Themen Migration, Rassismus, Sexismus und Identität mit Leichtigkeit; obwohl nichts komplexer ist als dieser Themenbereich. Spannender zeitgenössischer Roman. Empfehlung!  Weiter zur Rezension:   In allen Spiegeln ist sie Schwarz von Lolá Ákínmádé Åkerström

Rezension - In der Ferne von Hernan Diaz

  Anfang der 1850er Jahre, Håkan Söderström lebt zu einer Zeit in Schweden, in der die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Auszuwandern ins gelobte Land Amerika scheint eine Chance. So schickt der Vater die ältesten Jungen los. Zusammen mit seinem großen Bruder Linus steigt Håkan auf das Schiff nach England. Von dort soll es nach Nujårk, New York, weitergehen, doch im Hafen von Portsmouth verlieren sich die Brüder. Håkan fragt sich durch: Amerika! Doch der Bruder erscheint nicht auf dem Schiff – denn Håkan sitzt auf dem nach Buenos Aires. Das kapiert er zu spät, steigt in San Francisco aus. New York ist sein Ziel. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen. Sprachlich ausgefeilt, eine spannender, berührender Anti-Western, ein Drama mit einem feinen Ende. Die Epoche der Besiedlung Amerikas, Kaliforniens, wird hautnah eingefangen. Empfehlung! Weiter zur Rezension:  In der Ferne v

Rezension - Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie

  Eine spannende Reise durch die Jahreszeiten zu Tieren und Pflanzen rund um den Globus. Das Jahr beginnt mit dem Januar – mit einem heißen Bad. In Japan baden die Japanmakaken mitten im Schnee in warmen Quellen, fühlen sich ziemlich wohl dabei. In Peru ist Paarungszeit für die Aras. Die Männchen wollen schön sein für die Damenwelt – und gehen vor der Balz für ihre Figur auf Diät: sie schlecken Schlamm. Auch in Afghanistan ist Paarungszeit mitten im Schnee für die Schneeleoparden. In der Antarktis schlüpfen Pinguine aus dem Ei. Und so geht es weiter durch das Jahr. Kleine Sachgeschichten aus der Natur ab 4 Jahren. Empfehlung! Weiter zur Rezension:    Durch das Jahr mit der Natur von Lucy Brownridge, Margaux Samson Abadie